DRUCKEN

Orthorexie: Zu gesund macht auch krank

Orthorexie: Zu gesund macht auch krankImmer mehr Menschen leiden an der Sucht, sich nur noch absolut gesund zu ernähren. Mangelerscheinungen können die Folge sein.

Vor einem Cheeseburger graut ihnen. Gemüse darf höchstens eine Viertelstunde vor der Zubereitung geerntet worden sein. Rotes Fleisch ist völlig tabu. Die Milch fürs Müsli darf in der Molkerei nicht pasteurisiert worden sein. Und Obst darf nur aus politisch „korrekten“ Ländern stammen.

Fanatisch gesunde Ernährung

Die Liste der Eigenheiten, an denen ein fanatischer Gesundesser festhält, könnte vielfach verlängert werden. Ärzte haben jedenfalls in der selbstzerstörerischen Weise, gesund zu essen, eine seelische Krankheit entdeckt, die auch einen komplizierten Namen hat: „Orthorexia nervosa“, kurz Orthorexie (gr. orthos: richtig, orexi: Appetit) – was so viel bedeuten soll wie „krankhaftes Streben, sich gesund zu ernähren“, berichtet der Mediendienst obx-medizindirekt.

Übertreibung macht nicht gesünder

Natürlich ist nicht jeder, der vernünftig isst, ein Orthorektiker. Dazu gehört schon einiges mehr. Wenn jemand beispielsweise keine Einladung zum Abendessen mehr annimmt, jeden Restaurantbesuch verweigert, weil ihm die Zutaten verdächtig vorkommen, seine Freundschaften aufgibt und sich auf diese Weise völlig isoliert, dann liegt schon ein begründeter Verdacht nahe, dass es sich um eine psychische Störung handelt. Umso mehr, wenn solche Personen versuchen, ihr kulinarisches Weltbild mit missionarischem Eifer auf alle Bekannten zu übertragen. Oder wenn sie zum Einkaufen dreimal so lange wie andere Menschen brauchen, weil sie bei jedem Produkt die Liste der Inhaltsstoffe sorgfältig überprüfen müssen.

Vor rund zehn Jahren hat der amerikanische Arzt Steven Bratman das Krankheitsbild beschrieben und den Namen der Krankheit gleich mitgeliefert. Er wusste, wovon er sprach, denn er war selbst betroffen. Inzwischen hat er sein Problem im Griff. Er ernährt sich immer noch gesund, hat aber mit dem Missionieren aufgehört. Er kritisiert heute die Fanatiker, die sich in seiner heimat wahre Glaubenskriege führen: Veganern, die überhaupt keine tierischen Produkte zuließen, gegen Ovo-Lacto-Vegetariern und Anhängern einer modifizierten Fleisch- und Fischdiät.

„Psycho-Ventil“?

„Der zwanghafte Drang nach möglichst gesundem Essen oder die Angst vor ungesundem Essen hat in der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur einen Nährboden“, erklärt der Mediziner Dr. Günter Gerhardt, Moderator verschiedener deutscher Gesundheitssendungen. „Wäre das Thema 'gesundes Essen' gerade nicht en vogue, hätten diese Menschen ganz sicher etwas anderes gefunden, worauf sich ihre Angst beziehungsweise ihr Zwang konzentriert hätte.“
Deshalb ist diese Essstörung auch nicht mit abrupter Umstellung der Ernährungsgewohnheiten zu behandeln. Zuerst müssen die eigentlichen Motive aufgespürt werden, die zu diesem strengen Ess-Reglement geführt haben. Das kann eine gescheiterte Partnerschaft ebenso sein wie berufliches Versagen.
Orthorektiker können dabei höchst unterschiedliche Ernährungs-Weltanschauungen vertreten: Das reicht von der Makrobiotik über „Low Carb“ (möglichst wenig Kohlenhydrate), Atkins-Diät (nur Eiweiß und Fett) und „extrem fettarm“ bis hin zu Moden wie der „South Beach-Diät“. Gemeinsam ist den Patienten allerdings die verbissene Konsequenz beim Durchhalten und bei der Propaganda für ihren Lebensstil.

Einseitige Ernährung vorprogrammiert

„Naja, wenigstens ernähren die sich gesund“, könnte jetzt eingewandt werden. „Dem ist leider nicht so“, sagt Gerhardt. „Denn durch die übertrieben strenge Auswahl der Nahrungsmittel kommt es zu extrem einseitiger Ernährung und damit früher oder später auch zu Mangelerscheinungen und Untergewicht.“

Aber ärztliche Hilfe ist möglich, obwohl Orthorexie nicht als Krankheit definiert ist und keine Richtlinien für die Therapie gibt. Psychologen und Psychotherapeuten können helfen. „Wenn sich der Orthorektiker am Ende der Therapie wieder aufs Essen freut und kein schlechtes Gewissen hat, wenn ihm auch mal ein Burger geschmeckt hat, dann hat er seine Lebensfreude wiedergefunden. Und es war eine erfolgreiche Behandlung“, konstatiert Gerhardt.

Mag. Christian Boukal
Juli 2012


FOTO: obx-medizindirekt

Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020