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Die Wirklichkeit im Netz: Exzessives Computerspielen

120732.JPGDas Institut für Suchtprävention der pro mente OÖ veranstaltete Ende Mai 2007 eine Tagung über Süchte die nicht an Drogen gebunden sind: Glückspiel, Kaufzwang — und Computerspiele. Da geht es meist um Rollenspiele, die online im Internet gespielt werden.

Merkmal dieser Rollenspiele ist, dass die Spielplattformen rund um die Uhr offen stehen und die Handlung keine Pause macht. Bei diesen so genannten MMORPGs (Massive Multiplayer Online Role Play Games) organisieren sich die Spieler in Gilden. Gemeinsam müssen dann Aufgaben erledigt werden um auf eine nächsthöhere Spielebene zu gelangen.

Multinationale Gilden

Der Spieler legt bei Eintritt in die virtuelle Welt seinen Charakter fest – der nennt sich Avatar. Dieser Avatar – Magier, Krieger etc. – ist mit charakteristischen Eigenschaften ausgestattet. Gemeinsam mit Spielern aus allen Teilen der Welt organisiert man sich in Gilden und gestaltet das Spiel. Eine hohe Bindung an die „Spielwelt“ wird durch die monatlich fällige Gebühr, die ständige Verfügbarkeit des Spiels und die Tatsache, dass das Geschehen in der Spielwelt keine Pause macht, erreicht. Eine weitere Attraktion bieten die Spiele durch ihre fortschreitende technische Perfektion – die künstlichen Welten werden immer realistischer.

Soziales Prestige in der 'Gaming Community'

„Ein hoher zeitlicher Einsatz wird durch Fortschritte im Spiel, ein innerhalb der „Gaming community“ steigendes soziales Prestige und vertiefte soziale Bindungen innerhalb der Gilde belohnt“, berichtet Dipl.-Psych. Klaus Wölfling von der Interdisziplinären Suchtforschungsgruppe am Krankenhaus Charité Campus Mitte in Berlin. „Die meisten Online-Rollenspiele sind so angelegt, dass bestimmte, teilweise für das Weiterkommen im Spiel benötigte Aufgaben, nicht allein zu bewältigen sind, so dass die Spieler aufeinander angewiesen sind. Diese sozialen Bindungen innerhalb des Spieleuniversums erzeugen wiederum eine Verpflichtung und Versäumnisängste. Aussagen exzessiver Spieler zufolge, sorgt dieses soziale Gefüge dafür, dass „nachts der Wecker gestellt wird“, um einer Verabredung mit der Gilde nachzukommen“, erklärt Wölfling das Suchtpotenzial.

'Stars' im Netz schlafen nicht

Die Spieler im Netz müssen zusammenhalten, ihr soziales Miteinander im Spiel bleibt überschaubar. Das kann dazu führen, dass einzelne Spieler einen gewissen Berühmtheitsgrad erlangen, der wiederum „selbstverstärkend“ wirkt, berichtet Wölfling. Durch die gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben werden in einer Welt gestellt, die oft nicht so vielschichtig strukturiert ist wie die Realität. Dadurch kann für die Spieler die Illusion entstehen, dass Aufgaben, die soziale Fähigkeiten verlangen, in der Wirklichkeit ebenso konfliktfrei zu lösen sind wie im Netz.

Keine wirkliche Realität im Netz

Erfolg und soziales Prestige sind in den virtuellen Welten für Jedermann erreichbar. Und so werden die Parallelwelten zur Realität, in der die Spieler „abtauchen“ und „abschalten“ können. „Die von den Betroffenen einer ‚Computerspielsucht’ beschriebenen Symptome, Verhaltensweisen und Erlebniswelten weisen auf deutlich psychopathologisch gefärbte Muster hin, die denen einer Suchterkrankung gleichen“, berichtet Wölfling.

Noch keine wissenschaftlich fundierte Diagnose

Das Phänomen der „exzessiven“ Nutzung von Computer- und Videospielen im Kindes- und Jugendalter wird derzeit in der Öffentlichkeit sowohl aus pädagogischer als auch aus gesundheitspolitischer Sicht verstärkt kritisch diskutiert. Trotzdem liegt im deutschen Sprachraum bislang noch keine wissenschaftlich fundierte Datenbasis zur Diagnose und Therapie vor.

Symptome der Sucht

Die Berliner Charité versuchte dieses Störungsbild umfassend zu charakterisieren und deren psychischen Einfluss zu identifizieren.

Wölfling: „Die Praxis zeigt, dass sich die Kriterien für Abhängigkeit auch auf das exzessive Computerspielen anwenden lassen:

  • Das unwiderstehliche Verlangen, am Computer zu spielen,
  • die verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Dauer des Computerspielens,
  • Entzugserscheinungen (Nervosität, Unruhe, Schlafstörungen) bei verhinderter Computerspielnutzung,
  • der Nachweis einer Toleranzentwicklung (Steigerung der Häufigkeit oder Intensität/Dauer des Computerspielens),
  • fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen,
  • anhaltendes exzessives Computerspielen trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (z. B. Übermüdung, Leistungsabfall in der Schule, auch Mangelernährung).“

Kein Zusammenhang mit Gewalttätigkeit

Die Berliner Gruppe der Charité konnte feststellen, dass sich exzessive Computerspieler auch im Fernsehkonsum, im Kommunikationsverhalten und der Konzentrationsfähigkeit im Unterricht anders verhalten als „nicht-exzessive“. Die Charité bewertet die erhöhte Computernutzung in der Folge als eine „inadäquate“ Strategie zur Stressbewältigung.

Eine weitere, groß angelegte online-Befragung (7.069 Befragte) forschte nach dem Zusammenhang zwischen Computerspielen und Aggression. 11,9 Prozent der Befragten zeigten ein pathologisches Muster der Spielenutzung. Aber: „Es konnte nur ein sehr schwacher Zusammenhang mit geringer Effektstärke zwischen exzessivem Computerspielverhalten und aggressiv gefärbten Einstellungen nachgewiesen werden, der methodisch nicht sinnvoll interpretierbar ist“, so das Ergebnis der Studie.

Spielsucht ist Sucht

Ergänzend wurden Computerspieler und Gelegenheitsspieler einem Test unterzogen, der ihre Erregbarkeit auf Reize untersuchte, die mit Computerspielen in Verbindung stehen.

Dazu bediente sich die Charité eines abgewandelten Tests, der das Suchtverhalten von Alkoholikern abfragt.

Den Testpersonen wurden fünf verschiedene Bilder vorgelegt und die ausgelösten Hirnaktivitäten gemessen: Ein positiv erregendes Bild (Liebespaar), ein negatives (Zahnarzt), ein neutrales (Postkasten) und ein Bild mit Alkoholika und schließlich eines mit einem Standbild aus einem Computerspiel. 15 Gelegenheitsspieler und 15 exzessive Spieler wurden getestet. Das Ergebnis: „Die exzessiven Computerspieler verarbeiteten computerspielassoziierte Reize signifikant erregender als neutrale Reize. Die Gelegenheitsspieler verarbeiteten die computerspielassoziierten Reize jedoch ähnlich wie neutrale Reize“, so die Berliner Gruppe.

Soziale Entwicklungsbehinderung

Kinder können Computerspiele sehr wohl als Flucht vor unangenehmen Gefühlen in der realen Welt nutzen. „Kinder erfahren, dass sie mit solchen Verhaltensweisen oder Gebrauchsmustern schnell und effektiv Gefühle im Zusammenhang mit Frustrationen, Unsicherheiten und Ängsten regulieren bzw. verdrängen können. Im Laufe der Suchtentwicklung rückt die exzessive Nutzung moderner Medien in den Vordergrund zu Lasten anderer Verhaltensweisen. Somit werden keine alternativen Verhaltensmuster, wie z.B. adäquate Stressverarbeitungsstrategien, für kritische oder als Stress erlebte Lebenssituationen entwickelt bzw. gelernt“, so die Berliner Studie.

Einen Kurzleitfaden für Angehörige finden Sie unter dem nebenstehenden Link.


Mag. Christian Boukal
Juni 2007

Foto: Bilderbox

Zuletzt aktualisiert am 22. September 2020