Nicht immer ist Nägelbeißen eine harmlose Angewohnheit. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Kinder ab und zu Nägel beißen, denn in den meisten Fällen ist dieses Verhalten eine Folge von Langeweile oder eine nervöse Angewohnheit. Wenn Nägelbeißen aber zur Zwangshandlung wird und Verhaltensstörungen die Folge sind, dann sollten bei den Eltern die Alarmglocken läuten.
Das einzige Hässliche an Anna sind ihre Fingernägel. Anna ist acht und ihre Eltern sind schwer verunsichert, warum ihre kleine Tochter ihre Nägel so verstümmelt, dass sie regelmäßig blutet. Anna ist keine Ausnahme. Experten schätzen, dass jeder dritte Jugendliche und jeder zehnte Erwachsene an seinen Fingernägeln beißt. Meist beginnt diese Zwangshandlung im Kindergartenalter und hört irgendwann im Jugendlichenalter wieder auf. Psychologen sehen im Nägelkauen (Onychophagie) eine Reaktion auf Stress und Überforderung. Damit versuche der Betroffene unbewusst, die Nervenanspannung durch eine Ersatzhandlung abzubauen und sich dadurch zu beruhigen.
„Es ist immer eine Frage der Intensität“, betont Prim. Dr. Werner Gerstl, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Landeskinderklinik Linz. „Zu tolerieren ist Nägelkauen, wenn es nur in bestimmten Situationen wie Aufregung, Angst oder Anspannung passiert, und da muss auch nicht gleich professionelle Hilfe her. Anders verhält es sich, wenn Nägelkauen andauert und zu Verhaltensstörungen führt.“
Warum so viele Kinder und Jugendliche Nägel kauen, ist für Gerstl eine klare Sache. Jeder Mensch macht als Baby die Erfahrung, dass Erregung, Misslaunigkeit oder Sehnsucht nach Geborgenheit mit Nahrungsaufnahme oder Einverleibung verbunden ist. Das wird vegetativ gespeichert und später werden entsprechende Ersatzhandlungen aktiviert. „Nägelbeißen kommt besonders häufig vor, wenn Kinder den Wunsch haben, wieder klein zu sein, und das ist häufiger der Fall, als wir vermuten würden“, sagt Gerstl. Eigentlich in allen Situationen, in denen sich ein Kind oder ein Jugendlicher überfordert fühlt.
Hilfe beginnt beim Zuhören
Angst vor einer Schularbeit, Konflikte mit den Klassenkameraden oder Freunden: Die direkten Auslöser, die zum Nägelkauen führen, sind vielfältig. Manchmal haben die Eltern einfach zu wenig Zeit für ihren Sprössling oder es gibt familiäre Probleme, die das Kind nicht verkraftet. Eltern sollten versuchen herauszufinden, in welchen Situationen ihr Kind an den Nägeln kaut, und mit ihm darüber reden. Können die Schwierigkeiten, mit denen sich der Nachwuchs plagt, beseitigt werden, verschwindet in der Regel auch die Ersatzhandlung. Wenn ein Kind allgemein nervös ist, können Sport und Bewegung im Freien helfen, die innere Anspannung abzubauen. Beim Nägelkauen aus Aufregung — etwa während eines spannenden Filmes — reichen meist ein Kaugummi oder ein Zuckerl zur Ablenkung. Das Gegenteil bewirken fast immer Drohungen und Strafen, weil dadurch noch mehr Druck aufgebaut wird. Auf alle Fälle ist professionelle Hilfe erforderlich, wenn die schlechte Angewohnheit zum Zwang wird und die Nägel so weit abgebissen werden, dass das Nagelbett verletzt wird, anschwillt und Entzündungen entstehen.
Mag. Kornelia Wernitznig
August 2008
Foto: BilderBox, privat
Kommentar
„Falls Ihr Kind gelegentlich Daumen lutscht oder Nägel beißt, lassen Sie das zu und ermahnen es nicht ständig. Wenn es zur Gewohnheit wird, forschen Sie nach Ursachen wie Verlust von Geborgenheit oder anderen Problemen in der Familie.“
Prim. Dr. Werner Gerstl
Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Landesfrauen- und Kinderklinik Linz