Eine mögliche Krankheit ist ständiger Wegbegleiter des Menschen. Ängstliche Personen können diese Tatsache nicht ertragen und pilgern von Arzt zu Arzt, um eine lebensgefährliche Krankheit auszuschießen. In einer Psychotherapie kann man lernen, das Restrisiko einer möglichen Erkrankung auszuhalten und zu einem normalen Leben zurückzukehren.
In einer zunehmend gesundheitsbewussten Gesellschaft sorgen sich immer mehr Menschen um ihr leibliches Wohl. Die meisten beruhigen sich rasch wieder, wenn sie zunächst befürchten, schwer krank zu sein, und nach gründlicher medizinischer Untersuchung eine Entwarnung erhalten. Bei vielen Menschen aber erreicht die Sorge um die Gesundheit Ausmaße, die ihr Leben beherrschen und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Sie empfinden starken Leidensdruck und ihre berufliche und soziale Leistungsfähigkeit wird beeinträchtigt. Sie misstrauen dem öffentlichen Gesundheitssystem, bezahlen teure Gutachten, suchen nach den vermeintlich besten Ärzten und geben dabei viel Geld aus.
„Fünf Prozent aller Hausarztpatienten sind der Überzeugung, an einer lebensgefährlichen Krankheit zu leiden, sodass ständige medizinische Untersuchungen ihrer harmlosen Symptome die vermeintliche Lebensbedrohung abwenden sollen“, erklärt der Linzer Psychotherapeut Dr. Hans Morschitzky. Diese extreme Krankheitsangst ist landläufig als Hypochondrie bekannt. Um als solche klassifiziert zu werden, muss die Angst mindestens sechs Monate dauern und an den meisten Tagen pro Woche präsent sein.
Harmlose Symptome fehl interpretiert
Jeder gesunde Mensch hat zeitweise körperliche Symptome. Am häufigsten treten Kopfschmerzen, Übelkeit oder Schwindel auf. Während man solche Unpässlichkeiten üblicherweise als zum Leben gehörend hinnimmt, beginnt sich bei krankheitsängstlichen Menschen bereits das Gedanken-Karussell zu drehen. Sie interpretieren die an sich harmlosen Symptome falsch. Aus einer Verspannung in der Brust wird ein vermeintlicher Herzinfarkt, Kopfschmerzen werden zu einem Hirntumor und aus der Übelkeit Darmkrebs.
Die häufigsten Krankheitsängste bestehen vor Krebs und Gehirntumor, Schlaganfall, Herzinfarkt, Alzheimer-Krankheit, schädlichen Umwelteinflüssen und medial vermittelten Krankheiten (AIDS, Schweinepest, Vogel-Grippe u.a.).
Krankhafte Angst vor Krankheit
Betroffene suchen ihren Körper ständig in überängstlicher Selbstbeobachtung ab und interpretieren jede kleine Veränderung als Ausdruck einer lebensgefährlichen Entwicklung. Jedes noch so harmlose Symptom, jeder noch so leichte Schmerz könnte Vorbote einer tödlichen Erkrankung sein. „Wenn die Angst vor Krankheit das Leben dominiert, wenn immer mehr Arztbesuche doch keine Erleichterung bringen, dann liegt eine psychische Störung vor“, so der Linzer Angstexperte.
Ein Beispiel: Steht das Krankheitsrisiko bei 1 zu 100.000, dann denkt man normalerweise nicht daran, dass man selbst betroffen sein kann. Ganz anders ein Hypochonder. Er ist sich sicher, genau derjenige zu sein, den es trifft. Und dieses Restrisiko muss er ausschließen, indem er zum Hausarzt geht, sich untersuchen lässt. Er erhofft sich zwar negative Befunde, kann aber den Worte des Arztes – wenn überhaupt – nur kurzfristig glauben.
Ärzte-Odyssee
Findet der Hausarzt bei einem hypochondrischen Patienten anlässlich der Untersuchung nichts Besorgniserregendes, wird ein Facharzt aufgesucht. Findet auch der nichts, dann kommt rasch der Gedanke, dass diese Ärzte wohl unfähig seien und ein weiterer Facharzt – wenn möglich eine Koryphäe auf seinem Gebiet – wird aufgesucht. Doch auch das hilft nicht. Jeder Befund, der eine Erkrankung ausschließt, verstärkt nur das Gefühl der Unfähigkeit der Ärzteschaft. Eine Odyssee von einem Arzt zum nächsten beginnt. „Durch ihr ständiges Drängen auf ambulante und stationäre Untersuchungen bescheren sie dem Gesundheitssystem oft mehr Kosten als eine Krebserkrankung“, sagt Morschitzky.
Abgrenzung
Von der Hypochondrie zu unterscheiden ist die Angst, eine gefährliche Krankheit zu bekommen (Krankheitsphobie). Hier bestehen noch keinerlei (harmlose) Symptome, die Befürchtungen richten sich ausschließlich auf die Zukunft. Betroffene vermeiden alles, was zu Beunruhigung oder Gefährdung führen könnte (sie konsumieren keine Berichte über Krankheiten und vermeiden jeden Arztbesuch).
Ursachen
Viele Hypochondrie-Betroffene wachsen in einem belasteten Umfeld auf. Entweder ist ein Familienangehöriger schwer krank oder fürchtet krank zu sein. Das Kind wächst in dieser Stimmung auf und übernimmt die Ängste. „Oder eine schwere Krankheit wird im Umfeld des Betroffenen übersehen und er verliert das Vertrauen in die Ärzte. Dasselbe gilt, wenn man in der Zeitung von übersehenen Krankheiten liest“, so der Psychotherapeut.
Behandlung
Eine sinnvolle Behandlung dieser psychischen Störung besteht aus Psychotherapie, plus der Entwicklung eines positiven Gesundheitsverhaltens. Hat der Patient infolge der Hypochondrie zusätzlich eine Depression entwickelt, sind mitunter zusätzlich Antidepressiva nötig.
Psychotherapie
Menschen mit körperlichen Symptomen neigen dazu, die Ursache dafür ausschließlich im Körper zu vermuten. „Dass psychische Probleme zugrunde liegen könnten, gegen diesen Gedanken wehren sich viele anfangs vehement“, so Morschitzky. Erst wenn sie von einem Arzt zum nächsten gewandert sind, beginnt bei manchen eine Öffnung und eine Psychotherapie wird nicht mehr ausgeschlossen.
Der Psychotherapeut plädiert für relativ kurze Therapien. „Zehn bis 15 Sitzungen reichen zumeist für eine wesentliche Besserung aus.“ Ziel einer Therapie ist es, die Krankheitsängste zu bewältigen und auf ein normales Ausmaß zu reduzieren. Der Patient lernt, seine Denkweise zu ändern und sich selbst zu beruhigen. Er lernt, wieder Vertrauen in sich und seinen Körper zu erlangen. Er lernt, seine bestehenden harmlosen Symptome zuzulassen und nichts hineinzuinterpretieren. Ebenso gilt es, wieder Freude und Lust am Leben zu wecken. „Viele sind schon viele Jahre nicht mehr verreist, weil sie Angst haben, sie könnten das nicht durchstehen. Dabei ist es so wichtig, Neues zu sehen und am Leben teilzuhaben“, so Morschitzky.
Gesünder leben
Wichtig ist es auch, dass der Betreffende tatsächlich seine Lebensweise ändert, also gesünder lebt. „Viele Krankheitsängstliche verhalten sich nämlich ganz und gar nicht gesund, sie rauchen und essen falsch und zuviel. Andere wiederum haben ihren Körper völlig vernachlässigt, sie bewegen sich nicht, weil sie sofort irgendwelche Symptome spüren“, stellt Morschitzky fest.
Hausarzt mit einbeziehen
Befindet sich der Patient in psychotherapeutischer Behandlung, heißt das nicht, dass er ab sofort jede ärztliche Konsultation vermeiden sollte. „Der Hausarzt sollte mit einbezogen werden, die Therapie also begleiten. Es ist wichtig, dass er den Patienten und seine Probleme ernst nimmt. Konkret empfiehlt es sich, dass der Betroffene zwei bis maximal viermal pro Jahr zum Arzt geht, der die nötigen körperlichen Untersuchungen vornimmt. Am besten man vereinbart feste Termine im Voraus und vermeidet zusätzliche ärztliche Besuche“, sagt der Psychotherapeut.
Fürsorge als Hintergrund
Krankheitsängstliche Menschen fürchten sich nicht unbedingt vor dem Tod, sondern eher davor, dass sie ihre eigene schwere Krankheit miterleben müssen. Sie fürchten Abhängigkeit, Hilflosigkeit und dass sie der Familie zur Last fallen könnten. Nicht Egoismus sondern Fürsorge stehe häufig hinter den Ängsten. „Gedanken wie: Ich darf nicht krank sein, weil ich die Familie ernähren oder die Kinder großziehen muss stehen dahinter. Sie müssen unbedingt funktionieren, dürfen nicht ausfallen. Der häufige Vorwurf, solche Menschen betreiben egozentrische Nabelschau, ist meist falsch“, klärt Morschitzky auf.
Dr. Thomas Hartl
September 2012
Foto: Bilderbox