Wird die Angst vor bestimmten Menschen und sozialen Situationen krankhaft, nennt man das soziale Phobie. Sie gilt nach Depressionen und Alkoholproblemen als dritthäufigste psychische Störung. Diese Angst ist kein unabänderliches Schicksal, sondern lässt sich gut behandeln.
Fließende Grenzen
Fast jeder Mensch hat bestimmte Ängste vor gewissen Personen und Situationen. Das ist entwicklungsbedingt und zumeist nützlich. Ängste können aber auch krankhaft werden. Die Grenzen zwischen normalen und krankhaften sozialen Ängsten sind fließend. Ausmaß, Dauer und die daraus resultierenden Belastungen und Vermeidungsreaktionen bestimmen, ob die Ängste als Krankheit oder Störung eingestuft werden.
Die drei häufigsten sozialen Ängste sind:
- einen Vortrag halten,
- mit dem Chef/einer Autoritätsperson sprechen,
- Kontakt mit dem anderen Geschlecht aufnehmen.
Furcht vor Bewertung
Sozialphobiker fürchten sich vor (negativer) Bewertung, sozialer Kritik, Ablehnung und Ausschluss. Sie möchten es anderen immer recht machen, mit dem zumeist unbewussten Ziel, gemocht, anerkannt und/oder geliebt zu werden. Der Wunsch anerkannt zu sein, ist normal, das übertriebene Ausmaß dieses Wunsches und das erfahrene Leid aus dessen Nichterfüllung machen einen Sozialphobiker aus.
Ihr tatsächliches Leben ist voller Vermeidungsmanöver und das Gegenteil von einem Leben ihrer Vorstellung. Sie fürchten und vermeiden genau jene Situationen, die sie inständig herbeisehnen: etwa erfolgreich aufzutreten, zur eigenen Meinung zu stehen oder eine Beziehung anzubahnen.
Betroffene erkennen sehr wohl, dass ihre Ängste übersteigert und unbegründet sind, sie können aber Einstellung und Verhalten trotz der wissentlichen Irrationalität ihrer Gedanken nicht ändern. „Wegen ihrer Zurückhaltung werden Betroffene oft irrtümlich für desinteressiert oder arrogant gehalten. Aufgrund dieses falschen Etiketts haben sie eine geringe Chance, dass andere den ersten Schritt unternehmen und sie aus ihrem Schneckenhaus herausholen“, sagt der Linzer Psychotherapeut Dr. Hans Morschitzky.
Abgrenzung
Ein sozialphobischer Mensch braucht andere Menschen, deren Anerkennung und Bestätigung. Er will also etwas haben, zweifelt aber daran, es zu bekommen. Ein normal introvertierter Mensch dagegen fühlt sich alleine wohl. Er könnte zwar soziale Kontakte pflegen, wenn dies nötig wäre, er will das aber gar nicht. Er braucht die anderen nicht unbedingt, weil er nicht darauf angewiesen ist, sich ständig bestätigen lassen, was ihm wichtig ist. „Die Hälfte der Sozialphobiker ist unfreiwillig ohne Partner. Im Gegensatz zu Menschen, die einfach gern Single sind, würden sie nur allzu gern mit einem Partner leben, sie sind jedoch nicht in der Lage, auf potentielle Gefährten offen zuzugehen“, erklärt Morschitzky.
Körperliche Symptome
Betroffene leiden in schwierigen Situationen unter körperlichen Symptomen, die die Angst weiter verstärken. Häufige Symptome sind Zittern, starke Anspannung, Schwitzen, Erröten und Händezittern. Zusätzlich können sie mit der Unsicherheit einer sozialen Situation nicht umgehen, leben ständig im Kopf, in negativen Vorstellungen („was wäre, wenn …“). Man befürchtet und erwartet, dass Übelkeit zu peinlichem Erbrechen führen wird; dass Schwindel zu einer Ohnmacht führen wird; dass Mundtrockenheit, Atemnot und Beklemmungsgefühle den Sprachfluss beeinträchtigen werden; dass Harn- oder Stuhldrang wegen der häufigen WC-Besuche auffällig machen; vor allem jedoch, dass Schwitzen, Zittern und Erröten die innere Nervosität offenbaren und damit jedes Pokerface unmöglich wird.
Bei einem Teil der Betroffenen kann sich die Angst bis zu einer Panikattacke steigern. Panikattacken bei Sozialphobikern gehen allerdings nicht mit Todesangst einher (wie bei Menschen mit einer Panikstörung), sondern sind Ausdruck einer Angst vor dem „sozialen Tod“, der Furcht vor dem gesellschaftlichen Versagen.
Angst vor der Angst
Zu den Ängsten in Realsituationen kommt die Angst vor der Angst hinzu. „Ein Betroffener sagt sein Date oft wieder ab, weil er sich fürchtet, beim Treffen von der Angst überwältigt zu werden. Überwindet er sich doch und geht zum Treffen, ist er dabei ständig mit sich selbst beschäftigt, er beobachtet sich und sieht sich mit den Augen des anderen“, so Morschitzky.
Der Wunsch hinter der Angst
Hinter jeder Angst steht ein Wunsch. Sozialphobische Menschen wünschen sich, bei anderen gut anzukommen. Gleichzeit glauben sie nicht daran, dass das der Fall ist. Sie glauben nicht, dass sie in der Lage sind, sozial so auftreten zu können, wie sie es gerne hätten und sie glauben nicht, dass andere wirklich an ihnen interessiert sein können.
Vieles davon lässt sich mit ihrem negativ geprägten Selbstbild erklären. Sie haben zwar hohe Ansprüche an sich selbst, ohne aber eine hohe Meinung von sich zu haben. Daher können sie sich nicht vorstellen, dass andere positiv von ihnen denken.
Mittelpunktsangst als Karrierekiller
Auch die Arbeitswelt produziert Sozialphobien. Typisch sind „Mittelpunktsängste“. Man fürchtet und vermeidet Situationen, in denen man im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. „Ein typischer Fall: Steigt ein Sachbearbeiter zum Gruppenleiter auf, muss er neue Funktionen übernehmen. Er steht nun im Mittelpunkt, muss repräsentieren etc. und plötzlich geht es ihm schlecht und er weiß nicht warum. Eine solche Sozialphobie verhindert häufig Karrieren oder beendet sie, weil Betroffene eben keine Chefs sein können, ohne dass es ihnen schlecht dabei geht“, so Morschitzky.
Einstiegsstörung
Die Sozialphobie ist eine typische Einstiegsstörung in die Depression und in Alkoholmissbrauch. Betroffene missbrauchen häufig Alkohol, um sich zu beruhigen. Oder sie werden depressiv, weil sie ständig das echte Leben vermeiden und daher nichts erleben und keinerlei Erfahrungen machen.
Sozialphobie überwinden
Betroffene können selbst einiges tun, um ihre sozialen Ängste zu überwinden. Dr. Morschitzky skizziert die wichtigsten Schritte:
- Analysieren Sie Ihre Ängste und klären Sie Ihre Ziele. Man sollte sich aufschreiben, was man fürchtet, was andere von einem denken könnten.
- Aufmerksamkeitslenkung: Konzentrieren Sie sich auf die Sache und die Gegenwart, statt auf sich selbst und die Zukunft.
- Akzeptanztraining: Nehmen Sie Ihre sozialen Ängste an und verfolgen Sie konsequent Ihre Ziele. Akzeptieren Sie, dass Sie eben nicht so sind, wie Sie meinen, in den Augen anderer sein zu müssen. Ziel ist das Bewusstsein, dass Ihr Wert unabhängig davon ist, wer Sie mag.
- Denkmuster überprüfen: Dabei entdeckt man, wie man sich selbst durch das eigene Denken Angst macht. Ziel: Änderung der Denkmuster: Entwickeln Sie neue Sichtweisen.
- Mentales Training: Lernen Sie, soziale Situationen in der Vorstellung zu bewältigen.
- Abbau von Sicherheitsverhalten: Verlassen Sie sich auf sich selbst, statt auf Tricks (z.B. Beruhigungsmittel, Alkohol).
- Erhöhen Sie Ihr Selbstvertrauen, etwa durch mentale Übungen. Sonst bleiben Sie auf die Bestätigung anderer Menschen angewiesen.
- Symptombewältigung: Stellen Sie sich mutig den gefürchteten Körpersymptomen. Lernen sie, Unsicherheiten zu ertragen.
- Konfrontation: Stellen Sie sich den gefürchteten Situationen, ohne Flucht und Vermeidungsverhalten.
„Einer Konfrontation mit seinen Ängsten in der Praxis sollte aber erst erfolgen, wenn man die vorigen Punkte erfolgreich bearbeitet hat. Erfolgt die Konfrontation zu früh, verwirklichen sich die Ängste in der Realität und der Betroffene erlebt die Bestätigung seiner Befürchtungen“, warnt der Angst-Experte.
Therapie
Alle die angeführten Punkte zur Überwindung der Phobie können auch im Rahmen einer Verhaltenstherapie erprobt und erlernt werden. Mit der Diagnose „soziale Phobie“ können Betroffene eine ärztliche und psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen.
Dr. Thomas Hartl
März 2013
Foto: Bilderbox