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Savant-Syndrom: Außergewöhnliche Inselbegabung

Savant-SyndromDas Savant-Syndrom bezeichnet Menschen mit geistiger Behinderung, die auf speziellen Gebieten herausragende Fähigkeiten besitzen. Diese Leistungen treten meist zwischen vierten und achten Lebensjahr auf. Die Ursachen sind noch weitgehend unbekannt. Vermutet werden Schädigungen der linken Hirnhälfte, erklärt Dr. Kathrin Hippler von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien.

Der Film „Rain Man“ machte die Erkrankung weltweit bekannt; mittlerweile ist ein regelrechter „Hype“ darum entstanden: Die Rede ist vom Savant-Syndrom, auch Inselbegabung genannt. Das Syndrom beschreibt Menschen, die bei einer allgemeinen Intelligenzminderung eine erstaunliche kognitive Fertigkeit (Prozesse, die mit Wahrnehmung, Denken, Erinnern oder Lernen zusammenhängen) besitzen. Der Name leitet sich aus dem französischen „savoir“ ab, was „wissen“ bedeutet. Die Fähigkeiten betreffen vor allem die Bereiche Mathematik (etwa schnelles Ausrechnen von Primzahlen), Kunst (zum Beispiel das Malen fotografisch wirkender Bilder), Musik (absolutes Gehör) oder räumliche Fähigkeiten (so das Messen von Distanzen ohne technisches Hilfsmaterial). Zudem haben einige Savants besondere Gedächtnisleistungen, wie sich durch das exakte Auswendiglernen von Telefonnummern oder Fahrplänen zeigt.

Erstaunliche und talentierte Savants

Der amerikanische Psychologe und Forscher David Treffert trifft folgende Unterscheidung von Savants: Er bezeichnet jene Menschen als „erstaunliche Savants“, die Fähigkeiten besitzen, die auch für nicht beeinträchtigte Menschen bemerkenswert wären. Weltweit sind unter 100 erstaunliche Savants dokumentiert, während die Zahl jener, die angesichts ihrer kognitiven Beeinträchtigung eine beeindruckte Begabung haben, höher ist. Treffert bezeichnet diese Menschen als „talentierte Savants“. Genaue Angaben, wie viele Menschen talentierte Savants sind, lassen sich nur schwer treffen.

50 Prozent der Savants sind Autisten

Knapp zehn Prozent der Autisten haben das Savant-Syndrom, wobei Schätzungen zufolge die Hälfte der Menschen mit Savant-Syndrom Autisten sind. „Der Rest hat meist andere Formen schwerer Entwicklungsbeeinträchtigungen“, so Hippler. Auffällig ist, dass Männer das Syndrom viel häufiger als Frauen aufweisen.

Bereiche der Höchstleistung

„Die Begabung betrifft vor allem Bereiche, die mit dem Gedächtnis zu tun haben. Savants haben häufig enorm gute Gedächtnisfähigkeiten“, so die Psychologin. Betroffene sind beispielsweise im musikalischen Bereich außerordentlich begabt, ohne jemals zuvor Musikunterricht gehabt zu haben. So besitzen sie ein absolutes Gehör und sind in der Lage, komplexe Musikstücke nach nur einmaligem Hören detailgenau wiederzugeben. Oder sie können bereits unter acht Jahren zu einem beliebigen zukünftigen oder vergangenem Datum innerhalb von Sekunden den passenden Wochentag nennen. Andererseits finden sie sich oft in vermeintlich banalen sozialen oder Alltagssituationen kaum zurecht, können die Uhrzeit nicht lesen oder verstehen selbst einfache Textaufgaben nicht. Savants können auch im künstlerischen Bereich außerordentliche Fähigkeiten besitzen wie sich durch das Malen besonders ausdrucksstarker Bilder zeigen kann. Meist haben sie ein fotografisches Gedächtnis und können jedes Detail abrufen und perspektivisch exakte Bilder anfertigen.

Detailfokussierte Wahrnehmung

„Das Problem ist, dass man noch nicht genau versteht, wie das Savant-Syndrom verursacht wird. Da es weltweit nur sehr wenige Savants gibt, ist es schwierig, das Syndrom in größerem Umfang zu untersuchen“, so die Psychologin. Derzeit werden mehrere Theorien zur Entstehung des Savant-Syndroms in der Wissenschaft diskutiert: „Einige Gehirnareale können stärker aktiviert werden. Welche genau, ist noch nicht bekannt und auch von der jeweiligen Spezialbegabung abhängig.“ Eine weitere Theorie, die auch bei der Erforschung des Autismus diskutiert wird, ist jene der zentralen Kohärenz. Hippler: „Autisten haben eine detailfokussierte Wahrnehmung. Sie sind weniger in der Lage, Gesamtinformationen zusammenzufassen, dafür nehmen sie Details wahr, die wir vielleicht nicht sehen.“ Autisten nehmen alle Informationen gleichwertig auf. Das erklärt auch, warum sie schnell überlastet sind und sich zurückziehen.

Schädigung der rechten Hirnhälfte

„Mehrfach bestätigt wurde die Tatsache, dass die außergewöhnlichen Fähigkeiten meist die rechte Hirnhemisphäre betreffen. Dies kommt möglicherweise dadurch zustande, dass Schädigungen der linken Hirnhälfte die rechte veranlassen, die Beeinträchtigung auszugleichen. Auch zirkulierendes Testosteron im männlichen Fötus könnte eventuell das Wachstum der linken Hirnhälfte verlangsamen und neuronale Funktionen beeinträchtigen. Dies könnte auch erklären, warum das Savant-Syndrom bei Buben oder Männern häufiger vorkommt“, erklärt die Psychologin.

Steckt ein Savant in jedem von uns?

Die Erforschung des Savant-Syndroms wirft viele Fragen auf: Hippler: „Schlummert in jedem von uns ein Savant? Könnten wir diese Fähigkeiten auch haben und gehen sie auf Kosten anderer komplexer Hirnfunktionen verloren? Das alles sind interessante und spannende Fragestellungen für die Wissenschaft.“

MMag. Birgit Koxeder

Februar 2010

Foto: Bilderbox

Zuletzt aktualisiert am 11. Mai 2020