„Stell dich nicht so an.“ „Lach doch mal ein bisschen.“ Aber weder der eine noch der andere Appell hilft. Immer häufiger stellen Ärzte bei Kindern und Jugendlichen eine Depression fest. Kinder- und Jugendpsychiater sind alarmiert, berichtet die Austria Presse Agentur mit Berufung auf die dpa (Deutsche Presse-Agentur).
Die „Volkskrankheit“, die nach allgemeiner Ansicht Erwachsene trifft, holt anscheinend immer öfter auch Kinder und Jugendliche ein. Die Zahl entsprechender Diagnosen sei in den vergangenen zehn Jahren deutlich gestiegen, sagt Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität München. „Es gibt eine dramatische Zunahme im ambulanten und stationären Bereich.“
Erhöhte Aufemrksamkeit
Schulte-Körne leitete Anfang März 2015 den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Rund 2.000 Kinder- und Jugendpsychiater diskutierten in München über „Veränderte Gesellschaft – Veränderte Familien“ und die Herausforderungen an Kindheit und Jugend.
„Wenn ein Kind länger traurig war und sich zurückgezogen hat, hat man das früher nicht ernst genommen“, sagt Schulte-Körne. Dabei könne das der Anfang einer depressiven Phase sein – die unbehandelt in Alkohol, Drogen, einer chronischen Depression oder gar Selbstmord enden kann. Heute seien Eltern, Freunde und Lehrer aufmerksamer. Grundlose Bauchschmerzen, große Müdigkeit und Aggressionen können Hinweise auf eine Depression sein. Bei zwei bis vier Prozent der Kinder im Volksschulalter stellen Fachärzte eine depressive Episode von mehreren Wochen oder Monaten fest, bei Jugendlichen sind es 14 Prozent, fast so viel wie bei Erwachsenen mit 20 Prozent.
„Wir haben so viele Kinder, die depressiv erkrankt sind. Aber wir haben immer noch ganz wenig Wissen, wie wir ihnen helfen können“, so Schulte-Körne. Sport, Lichttherapie, Gespräch und nur im Notfall Medikamente – erstmals gebe es in Deutschland zumindest Behandlungsleitlinien. Doch selbst Fachärzte wendeten noch immer ungeeignete Gesprächsmethoden und Medikamente an. Depression bei Kindern wird unterschätzt.
Mobbing und soziale Netzwerke
Grund für die hohen Zahlen bei Jugendlichen sind laut DGKJP neben Pubertät unter anderem schulische Überforderung – und Mobbing in Schule oder sozialen Netzwerken. Fast 30 Prozent der Schüler sind damit konfrontiert, fast die Hälfte spricht nicht darüber und schämt sich für das „eigene Versagen“. „Stress durch Belästigung und Beschimpfung ist ein nicht zu unterschätzender Risikofaktor für Depression“, warnt Schulte-Körne. Hinzu kommt die exzessive Nutzung des Internets und damit ein veränderter Schlaf-Wach-Rhythmus. „Durch veränderte Lebenswelten haben die Kinder auch weniger Möglichkeiten zu kompensieren – sie gehen viel weniger raus.“ Dabei sind gerade frische Luft, Licht und Bewegung die beste Therapie.
Frühes Trauma
Ein Hauptrisiko für psychische Störungen bleibt ein frühes Trauma. „Am meisten betroffen sind Kinder, die frühe traumatische Erfahrungen hinter sich haben: Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung“, hält Schulte-Körne fest. Trotz Aufklärung: „Wir wissen, dass das immer noch relativ häufig passiert – und oft weggeschaut wird.“
Stark gefährdet sind auch Flüchtlingskinder, die nach traumatischen Ereignissen immer häufiger auch ohne Eltern Zuflucht in fremden Ländern suchen müssen. Aber der Zugang zu ärztlicher Hilfe ist in Unterkünften und Heimen extrem erschwert.
Trennungen der Eltern erhöhen das Risiko ebenfalls. Eine Studie am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung der Universität München ergab, dass Kinder bei Trennungen unter vielfältigen Faktoren leiden: Der Streit der Eltern, der Druck, sich mit einem Elternteil zu verbünden, die Umstellung auf neue Partner der Eltern und finanzielle Belastungen. Denn oft können sie sich nicht leisten, was ihre Freunde haben – eine zusätzliche Kränkung. Dennoch fand das Team um Prof. Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin des Deutschen Jugendinstituts München, heraus: Eine Trennung belastet oft kaum mehr als Dauerkrach der Eltern.
„Wir versuchen, dass wir Kinder bei Trennungen und in schwierigen Familiensituationen früh begleiten“, sagt Schulte-Körne. Und: „Wir müssen frühzeitig in Familien gehen, in denen die Eltern schon depressiv erkrankt sind.“ Denn die Krankheit ist Stress für die Kinder – sie sind damit stärker gefährdet.
Genetik
Tatsächlich gibt es auch eine genetische Veranlagung. Ein Beispiel ist das Gen FKBP5. Jeder zweite Mensch hat eine bestimmte Variante dieses Gens, das anfälliger macht für Stress. „Bei jedem kleinen Stress wird mehr Stresshormon ausgeschüttet. Die Menschen haben mehr Schwierigkeiten wieder runterzukommen“, sagt DDr. Elisabeth Binder vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie. „Wenn man dann ein Trauma in der Kindheit erlebt, hat man ein deutlich höheres Risiko, an Depression oder posttraumatischer Belastungsstörung zu erkranken.“
Ziel: „Wie können wir verhindern, dass es zu Erkrankungen kommt?“ Die Forschung steht am Anfang. Vor allem bei Kindern ist die Bedeutung des Gens weitgehend unerforscht. Eine Studie läuft derzeit an der Charité in Berlin in Zusammenarbeit mit dem MPI. Es wird aber Jahre dauern, bis Ergebnisse vorliegen, die dann hoffentlich eine bessere Behandlung oder Prävention ermöglichen.
Mag.
Christian Boukal / APA
April 2015
Foto: APA (dpa)