Wenn ein Film sehr spannend ist, aus Angst oder Unsicherheit, bei Langeweile oder Nervosität – die Gründe für das Nägelkauen sind vielseitig. Nur ganz selten steckt eine psychische Erkrankung dahinter.
Nicht wenige schauen ihrem gegenüber zuallererst auf die Hände, um Sympathie und Attraktivität zu beurteilen. Da machen abgekaute Fingernägel, die im schlimmsten Fall zu blutenden Wunden oder Infektionen am Nagelbett führen können, keinen guten Eindruck. Und den Kauenden werden auch gerne meist grundlos seelische Probleme sowie Willensschwäche unterstellt. Meist handelt es sich beim Nägelbeißen um eine Leerlaufhandlung – oft unbewusst ausgeführt – um bei Stress, welcher Art auch immer, die Anspannung abzubauen. „Wer nervös, ängstlich oder hektisch ist kaut vielleicht an den Nägeln, auch wenn diese Gewohnheit nur kurzzeitig Entlastung verschafft“, sagt die Klinische Psychologin Martina Pauli vom MedCampus IV der Kepler Universitätsklinik in Linz. Jeder hat andere Mittel mit Verlegenheit, Stress und Überforderung umzugehen. Der eine knackt mit den Fingern, die andere dreht an den Haaren oder wippt mit den Füßen, der nächste steckt sich eine Zigarette an.
Innere Anspannung abbauen
Das Phänomen Nägelkauen ist trotz des häufigen Auftretens selten Gegenstand wissenschaftlicher Studien, epidemiologische Untersuchungen gibt es kaum. Bis zu 45 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben Phasen in denen sie Nägelbeißen. Und rund jeder zehnte Erwachsene kaut bei innerer Unruhe und Anspannung an Nägeln oder knabbert an der Nagelhaut. Im medizinischen Fachjargon heißt diese Handlung Onychophagie.
Nägelkauen ist nicht gleich Nägelkauen. Die Ausprägung reicht vom nervösen Knabbern hie und da bis zum intensiven zwanghaften Beißen. Problematisch wird der Tick oder die Gewohnheit, wenn es zu schmerzhafter Selbstverletzung kommt oder jemand über längere Zeit hinweg ohne erkennbaren Grund die Nägel abkaut und sich andere Verhaltensauffälligkeiten oder Zwangshandlungen wie etwa ständiges Hände Waschen, gleichzeitig zeigen. Dann ist es sinnvoll, je nach Form der Störung Hausarzt, Psychologe, Psychiater oder Psychotherapeut aufzusuchen.
„Kinder kauen meist ab dem Kindergartenalter und in der Pubertät verschwindet die Angewohnheit in vielen Fällen von alleine wieder. Mobbing, schulische Probleme, Prüfungsangst können Gründe sein, aber auch die Trennung der Eltern oder sonstige Konfliktsituationen. Der Nachwuchs hat noch wenige Möglichkeiten seine Emotionen zu regulieren und baut die Spannung durch eine Ersatzhandlung ab“, sagt die Psychologin.
In der Pubertät mag der soziale Druck dabei helfen, das Nägelbeißen aufzugeben. Vor allem junge Mädchen legen dann Wert auf lange, schöne Fingernägel. Künstliche Nägel können da vielleicht helfen, den Absprung vom Kauen zu schaffen. Manches Kind schaut sich die Stressbewältigungsstrategie auch von einem Elternteil ab.
Überängstlich oder motorisch unruhig
Die Psychologin beobachtet das Kauen vor allem bei zwei Gruppen von Kindern: Den motorisch Unruhigen oder den Überängstlichen und Nervösen, die an sich herumnesteln. Bei den „Kindern, die kein Sitzfleisch haben“ können vermehrte Bewegungsangebote helfen oder man gibt ihnen als Alternative zum Beispiel einen Knetball in die Hand. „Wichtig ist, dass die Kinder selbst eine Lösung – sprich Ersatzstrategie – finden, die zu ihnen passt, etwa dass sie bewusst die Hände ineinander legen oder einen Radiergummi in die Hand nehmen, anstatt die Finger an den Mund zu führen“, sagt Pauli und zählt Aspekte auf, die es zu bearbeiten gilt, damit Kinder mit innerer Unruhe und Stress besser umgehen können: Selbstwertgefühl stärken, Ängste abbauen, Bewegung fördern, Gespräche anbieten und Beziehungsarbeit in der Familie verbessern sowie die Bedürfnisse der Kinder achten. Auch Rituale zur Handpflege, die man gemeinsam und regelmäßig ausführt, können helfen – vor allem, wenn ein Kind sieht wie die „abgeknabberten“ Nägel wieder nachwachsen. Das motiviert das Kind, das sich seiner abgenagten Nägel schämt.
Bittere und scharfe Nageltinkturen als Hilfsmittel zur Entwöhnung werden in der Apotheke angeboten sind aber nur Mittel zur Symptombekämpfung. Das kann in manchen Fällen helfen, packt aber das Übel nicht an der Wurzel.
Belastende Gewohnheit verlernen
Bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann man auch mit Biofeedback, Hypnotherapie oder Entspannungstraining arbeiten. Auch durch bewusstes Stressmanagement erübrigt sich bei manchen Menschen, die zu sehr unter Druck stehen, das Kauen von selbst.
Exzessives Kauen und die sichtbaren Folgen belasten Erwachsene seelisch. Manch einer traut sich nur mit Handschuhen in die Arbeit. In diesen Fällen kann ein Psychologe helfen, die individuelle Problematik, die dahinter steckt, zu erkennen und bei einer langfristigen Verhaltensänderung zu helfen. Eine wissenschaftlich erprobte Methode ist das „Habit Reversal Training“, zu Deutsch Reaktionsumkehr. Man geht dabei schrittweise vor:
- Der Betroffene erkennt und benennt alle Gründe und Situationen, in denen ihm das Kauen in den Sinn kommt.
- Mit dem Therapeuten gemeinsam findet er eine individuelle Ersatzhandlung wie etwa das Spielen mit dem Kuli, die Finger ineinander verschränken etc.
- Die Vorteile des Aufhörens – wie zum Beispiel schöne Nägel, innere Ruhe, mehr Selbstachtung und Selbstwert – verinnerlichen.
- Sich täglich heikle Situationen vorstellen und die Ersatzhandlung im Geist durchspielen und üben. Dieses mentale Trainieren festigt die Ersatzhandlung auch im realen Leben.
Schon eine bis maximal fünf Therapiestunden reichen im Schnitt aus, um das unangenehme Verhalten zu „verlernen“.
Gegen das Nägelkauen gibt es kein allgemeingültiges Rezept, es muss immer individuell abgeklärt werden, was der Grund dafür ist und dann bewusst gegensteuern.
Mag. Christine Radmayr
September 2016
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