Evidenzbasierte Medizin will nichts verkaufen und niemandem dienen außer dem kranken Menschen. Sie liefert wertvolle Aufschlüsse darüber, was uns wirklich gesund macht.
Die moderne Medizin ändert sich ständig. Was gestern noch richtig war, ist heute oft schon nicht mehr das Mittel der Wahl. Und was häufig verordnet und angewendet wird, ist nicht immer ausreichend und verlässlich mit Studien untermauert. Dem Kampf gegen therapeutische Irrtümer und Fehlbehandlungen, die daraus entstehen können, hat sich eine noch recht junge Entwicklungsrichtung der Medizin verschrieben: die „evidenzbasierte Medizin“ (kurz EbM). Der Begriff bezieht sich auf den englischen Ausdruck „evidence-based-medicine“ und bedeutet so viel wie Medizin auf Basis von überprüfbaren Beweisen. Ärzte sollen laut EbM ihre Entscheidungen stets auf Basis des aktuellen Wissens treffen und sich nicht nur auf das, was sie einmal gelernt haben, verlassen. „Das ist ein wichtiges Anliegen, denn in medizinischen Fragen richtig zu entscheiden, alle Vor- und Nachteile sowie möglichen Alternativen abzuwägen, ist nicht immer einfach“, erklärt Barbara Nußbaumer-Streit, stellvertretende Direktorin von Cochrane Österreich: „Die Datenflut wird immer größer. Entsprechend wichtiger wird die evidenzbasierte Medizin, die mit ihren Methoden einen ausgewogenen Überblick über die aktuelle Forschungslage schafft.“
Der Weg
Die Trennung des Nützlichen vom Überflüssigen schaffen EbM-Experten, indem sie Untersuchungen systematisch sichten. Sie sehen sich für ein Gesundheitsthema alle bereits gemachten Studien an, bewerten diese kritisch und fassen zusammen, wie gut ein Medikament oder eine Behandlungsmethode angesichts dieser Erkenntnisse tatsächlich wirkt. In diesen „systematischen Übersichtsarbeiten“ geht es nicht nur um den bewiesenen Nutzen einer Behandlung, sondern etwa auch um ihre Folgen für die Lebensqualität. Die vielen Studien, die es zu sichten und zu bewerten gilt, werden von mehreren EbM-Organisationen unter die Lupe genommen. Die wohl bekannteste ist die internationale Organisation Cochrane. Dieses EbM-Netzwerk von 37.000 Menschen aus über 130 Ländern erstellt systematische Übersichtsarbeiten nach strengen methodischen Vorgaben als solides Fundament für ärztliche Entscheidungen. In erster Linie werden zur Einschätzung von Behandlungen sogenannte randomisiert kontrollierte Studien herangezogen, die ein Höchstmaß an Objektivität und wissenschaftlicher Genauigkeit erfüllen.
Drei Säulen
Die Non-Profit-Organisation verdankt ihren Namen dem EbM-Pionier Archibald Cochrane. Der Arzt und Epidemiologe regte schon in den Siebzigerjahren an, alle wichtigen Arbeiten zu einem Gesundheitsthema regelmäßig kritisch zusammenzufassen und zu bewerten. 1990 wurde die erste derartige Zusammenfassung veröffentlicht: Sie zeigte, dass Frühchen, deren Mütter bei einer drohenden Frühgeburt Kortison erhielten, bessere Überlebenschancen hatten und rettete in der Folge vielen Frühgeborenen das Leben.
Heute sind Cochrane-Experten wichtige, von Pharmafirmen unabhängige Berater im Gesundheitswesen und für die Weltgesundheitsorganisation WHO: Sie erstellen systematische Übersichtsarbeiten, übersetzen ihre Forschungsergebnisse in eine verständliche Sprache und stellen Zusammenfassungen kostenlos im Internet zur Verfügung. Mittlerweile gibt es zu den wichtigsten Heilmethoden Heilmethoden Übersichtsarbeiten, die den aktuellen Wissensstand zusammenfassen und Nutzen gegen Nebenwirkungen und Risiken abwägen. „Evidenzbasierte Medizin ist dabei aber noch weit mehr als das Lesen von Studien“, erklärt die EbM-Expertin Nußbaumer-Streit. Sie schließe auch die individuelle Erfahrung und Expertise von Ärzten und Therapeuten sowie die Bedürfnisse des Patienten selbst ein. Diese sollten im Idealfall so gut über die Vor- und Nachteile einer Therapie informiert werden, dass sie aktiv mitentscheiden können. Diese Entscheidung kann auch einen Therapieverzicht beinhalten wie beispielsweise beim Prostatakrebs in höherem Alter.
EbM hat auch Grenzen
Noch ist die Umsetzung von evidenzbasiertem Wissen in der Gesundheitsversorgung nicht selbstverständlich. Ein Beispiel dafür ist das häufige Röntgen bei Rückenschmerzen bereits in den ersten Wochen nach dem Auftreten der Beschwerden, obwohl die EbM von dieser unnötigen Belastung für den Patienten bereits seit langem abrät. Das gilt auch für Arthroskopien bei Kniearthrose, dem Verschreiben von Gelenkkapseln oder dem Einspritzen von Hyaluronsäure, die laut EbM-Richtlinien höchstens als alternative Behandlungsformen sinnvoll sind.
Doch auch wenn es noch Lücken gibt, so ortet Barbara Nußbaumer-Streit doch einen zunehmenden Trend in Richtung evidenzbasiertes Arbeiten, das zunehmend Einzug in die (ärztliche) Praxis hält und in Österreich mittlerweile auch an medizinischen Unis gelehrt wird.
Gesicherte InfosWebsites mit wissenschaftlich ge- sicherten Informationen gemäß den Grundlagen der evidenzbasierten Medizin: > www.medizin-transparent.at Das Portal von Cochrane Österreich überprüft auf Anfrage kostenlos, ob Behauptungen aus Internet, Medien und Werbung wirklich stimmen. > www.cochrane.org/de/evidence Hier bietet Cochrane eine kompakte Zusammenfassung der Ergebnisse von Übersichtsarbeiten auf Deutsch. > www.gesundheitsinformation.de Informationsseite des unabhängigen Deutschen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). > www.krebsinformationsdienst.de Informationen des Deutschen Krebs- forschungszentrums zu Krebsarten und Therapien, Vorbeugung und Krankheitsbewältigung.
> MedBusters – Die App für gesundes Wissen Die einfach zu bedienende App mit wissenschaftlich fundierten Gesund- heitsinformationen von medizin-transparent.at und gesundheitsinformation.de wurde vom Hauptverband der öster- reichischen Sozialversicherungsträger entwickelt. Es gibt sie kostenlos im App Store oder Google Play App Store. |
Dr. Regina Sailer
Kommentar
Barbara Nußbaumer-Streit, MSc BSc Bakk.
Stv. Direktorin Cochrane Österreich
Bilder: shutterstock; privat