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Sensibel und empathisch: kein Grund, sich verkehrt zu fühlen

Sensibel und empathisch: kein Grund, sich verkehrt zu fühlen

Sie lieben die Stille, haben ein reiches Innenleben und fühlen sich alleine in ihrem Reich pudelwohl? Unter anderen Menschen fühlen Sie sich dagegen rasch von Reizen überflutet, überfordert und ausgelaugt? Sie spüren, was andere denken und fühlen, sind kreativ und leben sehr bewusst? Dann gehören Sie vielleicht zu jenen Menschen, die man als sensibel oder gar hochsensibel bezeichnet. Mit diesen Eigenschaften kann man gut leben, wenn man sie akzeptiert und sich danach richtet. 

Jeder Mensch ist einzigartig und vor Schubladisierungen sollte man sich hüten. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten und Muster, die gewisse Kategorisierungen und verallgemeinernde Aussagen zulassen. Hier soll das innere Erleben von jenem Typ Mensch betrachtet werden, den man gemeinhin als sensibel oder gar als hochsensibel und fälschlicherweise oft auch als menschenscheu bezeichnet. Wenn Ihnen einige der folgenden Punkte bekannt vorkommen, könnten auch Sie so ein Mensch sein. 

Süße Stille 

Sensible Menschen lieben die Ruhe, oft sogar die absolute Stille. Nichts entspannt sie mehr, lässt sie besser zu sich kommen, ihre Gedanken und Gefühle wahrnehmen, als eine ruhige Umgebung. Lärm in seinen vielen Ausprägungen dagegen belastet sie, macht sie nervös, lässt sie verspannen, verursacht ihnen großen Stress. Sie meiden daher laute Umgebungen und flüchten, wenn möglich, aus lärmigen Situationen. „Sie halten die vielen Geräusche und das Gedränge in der Stadt oft einfach nicht aus“, sagt Ilse Mahringer, Psychotherapeutin in Wien. Daher meiden sie häufig gesellige Runden und Veranstaltungen aller Art. Der Nachteil dabei: Oft nagt besonders bei den Jüngeren das Gefühl, entscheidende Teile des Lebens zu versäumen. 

Einzelgänger statt Herdentiere 

Menschen verbringen ihre Zeit am liebsten in Gruppen: gemeinsam beim Grillen mit der Familie oder am Feierabend im Fußballverein. Alle Menschen? Von wegen! Nicht alle fühlen sich in Gruppen wohl. Ein Teil der Bevölkerung fühlt sich – nicht immer, aber oft – am wohlsten, wenn er in kleinen Gruppen, zu zweit oder ganz alleine ist.  

Sensible Menschen sind oft eher Einzelgänger denn Partylöwen. Gruppen werden von diesem Menschentyp oft als laut, oberflächlich, anstrengend und nervtötend empfunden. Sie sind jedoch keine Menschenfeinde, sondern sie fühlen sich von Enge, Menschenmengen und Lärm eingeengt und „erschlagen“. Sie sind zwar gerne allein, gehen aber, wenn ihnen danach ist (wenn sie sich wohl dabei fühlen), auch gern unter Menschen, sie sind also nicht generell menschenscheu. 

Geringer Reizfilter 

Der Wunsch nach Stille und Rückzug entsteht, weil Sinneseindrücke im Gehirn bei sensiblen Menschen in geringerem Ausmaß gefiltert werden als üblich. Aufgrund neurologischer Besonderheiten gelangen sehr viele Reize in ihre bewusste Wahrnehmung. Solche Menschen hören, sehen, riechen, schmecken, ertasten und erfühlen intensiver als andere. Weil sie mehr Reize aufnehmen und diese auch sehr gründlich verarbeiten, sind sie oft lange Zeit mit der nachträglichen Verarbeitung des Erlebten beschäftigt. „Weil in turbulenten Situationen nicht alles sofort verarbeitet werden kann, verschiebt das Nervensystem vieles in eine Art Zwischenspeicher. Daher brauchen sie Ruhezeiten, in denen sie alles verdauen können. Nach längerem Beisammensein mit einer Gruppe Menschen fühlen sie sich oft fix und fertig. Aufenthalte in größeren Gruppen werden daher, soweit es möglich ist, gemieden. Denn das Beisammensein mit anderen kostet sie viel Energie, sodass man nach einem solchen Arbeitstag am Abend so ausgelaugt ist, dass man sich nur mehr hinlegen möchte“, erklärt Mahringer. 

Gerne allein, aber nicht einsam 

Wenn Sensible allein sind, sind sie in der Regel nicht einsam, denn sie verbringen die Zeit mit sich selbst. Aufgrund ihres bewussten Lebens und ihrer Reflektiertheit, beschäftigen sie sich gedanklich gern mit sich selbst und ihrem Leben. Die Zeit mit sich (alleine) zu verbringen, ist für sie die pure Erholung. Erholung vom Lärm und Stress der Welt und den vielen Eindrücken, die „da draußen“ auf sie einprasseln. Allein sein heißt: Endlich kann man durchatmen, loslassen, zu sich kommen. Am liebsten bei einer Meditation oder einem Spaziergang in ruhiger Umgebung.  

Dosiertes Zusammensein 

Während extrovertierte Menschen die Anwesenheit oder Aufmerksamkeit anderer geradezu brauchen, ist das bei sensiblen Menschen nicht der Fall. Wesentlich angenehmer empfinden sie Gespräche mit einem Freund, zu zweit und in aller Ruhe. Der Freundeskreis ist eher klein, aber dafür pflegt man echte Freundschaften, in die man auch Zeit investiert. Manchen reicht es aus, einen einzigen wirklich guten Freund zu haben.

Auch sensible Menschen sind natürlich soziale Wesen und brauchen den Austausch und die Nähe anderer Menschen – dies aber gut dosiert und nur dann, wenn es ihr Nervenkostüm zulässt.   

Anlage erkennen und sich danach richten 

Solche Menschen müssen nicht zwangsläufig an ihrem Wesen und dem „lauten Leben“ da draußen leiden oder gar verzweifeln. Entscheidend ist es zu erkennen, was gut für sie ist und was nicht. Das bedeutet, dass sie sich klar machen sollten, welche Dosis an Leben in der Gruppe, welche Dosis an Lärm und anderen Reizen sie im Moment aushalten und sich aussetzen können. Jeder Sensible steht vor der Aufgabe, sein Leben so zu gestalten, dass es gut zu ihm passt. Er sollte nicht versuchen, es gegen seine Natur zu leben. Denn damit würde er sich einem Dauerstress aussetzen, der mit der Zeit körperliche und auch psychische Probleme auslösen würde.  

„Man sollte nicht versuchen, die Grundzüge seiner Persönlichkeit zu verändern, denn das ist auch kaum möglich. Wichtig ist jedoch, diese zu erkennen und sich ihrer sehr bewusst zu werden. Denn das erlaubt einen, die eigenen Grenzen besser zu erfassen und gut mit ihnen umzugehen. Bevor sie darüber aufgeklärt werden, fragen sich viele, warum sie denn so anders sind als die anderen und warum sie so vieles nicht aushalten. Die meisten sind erleichtert, wenn sie erfahren, dass sie nicht verschroben oder gar verrückt sind, sondern dass das eine ganz natürliche Anlage ist, ja eine Art Gabe, die eine Minderheit der Bevölkerung eben besitzt“, erklärt Mahringer. 

Oft missverstanden 

Da sich sensible Menschen scheinbar „merkwürdig“ verhalten (sie meiden oder verlassen oft gesellschaftliche Anlässe, suchen in der Mittagspause einen ruhigen Platz, an dem sie allein sein können, sie flüchten vor Lärm und Gedränge) werden sie oft missverstanden. „Wenn man die Gesellschaft meidet, wirkt man schnell arrogant, was jedoch nicht der Fall ist.“

Was tun? Es empfiehlt sich, konkret zu sagen „ich entspanne mich in meiner Mittagspause am besten, wenn ich ungestört bin“ oder „ich brauche jetzt kurz mal Ruhe“ oder „ich kann mich in Ruhe besser konzentrieren“ oder „ich habe jetzt noch einen Termin, muss gehen“, anstatt abstrakt über die eigene Hochsensibilität oder andere seelische Besonderheiten zu sprechen. 

Kreativ und begabt 

Sensible Menschen haben wertvolle Eigenschaften. Mahringer: „Sie haben viel Gefühl, sie spüren, was in ihnen selbst vorgeht und sie können andere Menschen lesen, sie erkennen also sehr rasch, was andere fühlen und wie es ihnen geht. Viele sind sehr intelligent, manche auch hochbegabt.“ Überproportional viele sind in sozialen und kreativen Berufen zuhause; viele machen sich auch selbstständig.  

Einordnung und Abgrenzung 

Sensible und Hochsensible sind oft auch introvertiert (nach innen gekehrt) oder schüchtern, sie müssen es aber keinesfalls sein. „Schubladisierungen sind schwierig und sinnlos, es gibt viele Überschneidungen. Es lässt sich wissenschaftlich nicht exakt darstellen, man kann das Sein und Erleben dieser Menschen nur beschreibend erklären“, sagt Mahringer. 

Sensibel oder introvertiert zu sein, ist weder eine Diagnose noch ein krankheitswertiger Zustand. Anders liegt der Fall, wenn jemand an einer Sozialphobie leidet. Hierbei handelt es sich um eine Angststörung, deren zentrales Merkmal ausgeprägte Ängste sind, in sozialen Situationen im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder beschämend zu verhalten. Betroffene mit diesen sozialen Ängsten meiden Situationen, in denen sie der Bewertung durch andere ausgesetzt sind, und gehen diesen aus dem Weg. Da eine solche Störung das Leben sehr einschränkt und unfreiwillig in die Isolation treiben kann, empfiehlt sich in ausgeprägten Fällen eine Psychotherapie.  

„Wenn jemand gerne alleine ist, aber darüber hinaus soziale Kontakte pflegt, mache ich mir keine Sorgen. Anders ist es, wenn jemand keinerlei Kontakte hat und weitgehend isoliert lebt, denn ein bestimmtes Maß an Austausch ist einfach nötig, da der Mensch ein soziales Wesen ist, das nicht alleine existieren kann“, sagt Mahringer.

 

Dr. Thomas Hartl
Oktober 2022


Bild: Egor Fomin-1/shutterstock.com




Zuletzt aktualisiert am 18. Oktober 2022