Wir Menschen brauchen körperliche Nähe und Berührungen. Gewollte und als angenehm empfundene Berührungen bedeuten zwischenmenschlichen Austausch und vermitteln Wohlbefinden, Geborgenheit und Sicherheit. Auch im Alter erlischt der Wunsch nach Körperkontakt, menschlicher Nähe und Wärme nicht.
Bei einer angenehmen körperlichen Berührung kommt es zur Ausschüttung von Botenstoffen, die das Wohlbefinden stärken. Es handelt sich vor allem um die „Glückshormone“ Dopamin und Serotonin. Schon ein bloßes Rückenkraulen wirkt wie ein Orkan im Gehirn. Zudem wird das Hormon Oxytocin freigesetzt, welches das Bindungsgefühl stärkt. Die höchsten Dosen gibt es bei stillenden Müttern und deren Babys. Dieses Hormon reguliert den Stoffwechsel, senkt den Stresspegel und lässt Ängste schwinden.
„Berührungen sind essenziell. Die anderen Sinne können das aktive und passive Tasten nicht voll ersetzen. Mit jemandem zu sprechen, ist zwar ebenfalls ein wichtiger zwischenmenschlicher Austausch, doch eine Stimme, die man nur hört, kann eine Hand, die man spürt, nicht ersetzen“, sagt Mag. Astrid Jorda vom Institut für Psychotherapie am Kepler Universitätsklinikum Linz.
Angeborenes Grundbedürfnis
Das Bedürfnis nach Berührungen ist tief in uns verankert, der Wunsch nach Körperkontakt ist angeboren. Als Ursprung aller Empfindungen wird der Tast- oder Berührungssinn vor allen anderen Sinnen entwickelt. Bereits in der siebten Schwangerschaftswoche reagiert der (noch winzige) werdende Mensch auf Berührungen. Über Berührung nimmt der Embryo von Anfang an seine Umgebung wahr. Er fühlt die schaukelnden Bewegungen im Körper der Mutter und spürt die sich verändernden Druckverhältnisse.
Frühe Erfahrungen prägen
Die kindliche Entwicklung und das Sozialverhalten werden stark über Berührung gefördert. Der Grundstein für unser späteres Berührungsempfinden wird schon in der frühesten Kindheit gelegt. Menschen, die im Säuglingsalter oft angenehm und angemessen berührt wurden, deren Sozialverhalten und auch Wachstum, Abwehrfähigkeit, geistige Entwicklung und seelische Stabilität sind im Gegensatz zu kaum berührten Säuglingen besser ausgeprägt.
„Eine körperliche Berührung ist immer auch eine seelische Berührung. Körperliche Berührungen sind für die seelische Gesundheit und die gesamte Entwicklung enorm wichtig und sie sind die Basis für die Persönlichkeitsentwicklung und die spätere Beziehungsfähigkeit. Ist der zwischenmenschliche Austausch in den ersten Lebensjahren nicht angemessen vorhanden, kann es zu Schäden der seelischen, sozialen und körperlichen Entwicklung kommen. Bekommen Säuglinge nicht die Berührungen, die sie brauchen, dann habe sie im späteren Leben als Erwachsene oft Probleme festzustellen, welche Bedürfnisse sie haben. Sie können diese nicht erkennen, weil sie als Baby zu wenig Erinnerungen an positive Kontakte abspeichern konnten. Gebe ich hingegen einem Baby jene Berührungen, die es braucht, dann erkennt es, was es gebraucht hat, damit es ihm gutgeht und speichert dieses Wissen ab“, sagt Mag. Jorda.
Berührungen ein Leben lang
Das elementare Verlangen nach Berührungen begleitet uns Menschen ein Leben lang und nimmt mit zunehmendem Alter nicht ab. Erwachsene und Senioren brauchen sie ebenso wie Neugeborene und Kinder, denn Berührungen stillen das Bedürfnis nach fühlbarem Kontakt und Geborgenheit. Selbst im Sterbeprozess ist die Berührung jener Sinn, über den wir einen Menschen am längsten erreichen können.
Berührung ist nicht Sex
Diese Zusammenhänge machen auch klar, dass Berührung nicht mit Sexualität gleichgesetzt werden kann. Sie ist zwar Teil der Sexualität, geht jedoch weit über sie hinaus. Unsere optisch sexualisierte Gesellschaft bedient zwar in unzähligen neuen und alten Medien das Verlangen nach visuellen Reizen, doch können auch viele Millionen Sexseiten im Internet eine echte Berührung in keiner Weise ersetzen.
Senioren fehlt oft körperliche Berührung
Senioren mangelt es häufig an Berührungen. Je älter der Mensch, desto weniger Berührungen bekommt er in den meisten Fällen. Um dem entgegenzuwirken, wäre es wichtig, soziale Kontakte zu bewahren oder aufzubauen. Naheliegend ist Kontakt mit der Familie. Als Oma oder Opa Zeit mit den Enkelkindern zu verbringen, garantiert viel Körperkontakt, der für beide Seiten wichtig ist.
Wer in einem Senioren- oder Pflegeheim lebt, für den ist die Pflege oft der einzig mögliche Körperkontakt. Berührungen sind als Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt umso wichtiger, je mehr die geistigen Kräfte schwinden und die Sprache verloren geht. „Demente Menschen brauchen viel Berührung, denn ihnen geht die Kommunikation und Erinnerung immer mehr verloren. Mittels Berührungen lassen sich gewisse Erinnerungen herstellen, das tut ihnen gut und stabilisiert sie“, sagt Mag. Jorda.
Neue Studie mit älteren Paaren
Ältere Paare, die im Alltag mehr körperliche Nähe pflegen, haben ein besseres Wohlbefinden. Bisherige Studien zu den Effekten von körperlicher Nähe auf emotionaler Ebene und Stressniveau fokussierten sich auf jüngere Pärchen. Wissenschaftler vom Institut für Psychologie der Humboldt-Universität in Berlin analysierten nun die körperliche Nähe von 120 Paaren im Alter zwischen 56 und 88 Jahren. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass körperliche Nähe die Stimmungslage und Ausschüttung von Stresshormonen im täglichen Leben von älteren Paaren beeinflusst, und dass auch kleine Formen des Körperkontakts, egal ob Berührung, Umarmung, oder Kuss, im Alltag wichtig für das Wohlbefinden sind.
Berührung auf Umwegen
Ob bewusst oder unbewusst, Menschen ohne ausreichende Berührungen durch ihr soziales Netzwerk (Partner, Familie, Freunde) suchen alternative Möglichkeiten, um Ersatz zu bekommen. Die Möglichkeiten sind vielfältig:
- Gesellschaftliche Aktivitäten wie Tanzen und Kontaktsportarten.
- Starke Inanspruchnahme der Dienste des Gesundheitssystems, zum Beispiel häufige Physiotherapie. Ältere Menschen finden Zuwendung und auch körperlichen Kontakt oft beim Arzt. Körperliche Untersuchungen und Therapien sind für manche die einzige Möglichkeit, überhaupt noch berührt zu werden.
- Tiere: Haustiere brauchen Zuwendung und vermitteln Zuneigung. Katzen beispielsweise empfangen nicht nur Berührungen, sondern schmiegen sich auch selbst an und spenden damit aktive Berührungen.
- Massagen, Hand- oder Fußpflege und viele weitere Wellnessanwendungen. Die Wellnessindustrie boomt nicht zuletzt deswegen, weil sie körperliche Berührungen bietet.
„Freilich wäre eine ständige vertraute Bezugsperson, mit der man Berührungen austauschen kann, eine einfachere Art, sein Bedürfnis nach Körperkontakt zu stillen, doch auch diese Alternativen sind durchaus hilfreich“, sagt Mag. Jorda.
Nicht nur das passive Berührtwerden ist angenehm, auch sich selbst zu berühren ist gut und wichtig. Die Möglichkeiten sind vielfältig und reichen von sich die Hände reiben, sich eincremen, die Haare waschen, duschen bis hin zur Sexualität.
„Sich von der Schönheit der Natur berühren zu lassen, den Wind und die Sonne auf der Haut spüren, das kühlende Nass in einem morgendlichen Schwimmerlebnis oder beim Barfuß gehen in der Wiese, all das kann uns auch helfen, sich im Einklang zu fühlen“, sagt die Psychotherapeutin.
Gesundheit profitiert
Angenehme Berührungen haben einen deutlichen Einfluss auf die Gesundheit des Körpers. Schon eine bloße Umarmung kann das Stresslevel herunterfahren, unabhängig vom Alter der umarmten Person. Dieses Gehaltenwerden beruhigt und entstresst über das vegetative Nervensystem und hat zudem schmerzlindernde Wirkung. Auch das Immunsystem und das Herz-Kreislauf-System werden gestärkt. „Man wird gesundheitlich widerstandsfähiger, erholt sich von Belastungen besser und steigert dadurch auch seine Leistungsfähigkeit. Psychisch bringt positive Berührung Sicherheit, Vertrauen und Verbundenheit“, so Mag. Jorda.
Suchtrisiko
Andererseits kann sich das Ausbleiben fehlender positiver Berührungen negativ auf die Gesundheit auswirken: Das Suchtrisiko steigt (z.B. Magersucht, Alkoholsucht, Drogen, Spielsucht), Selbstwert und Selbstvertrauen sinken, das Risiko für Depressionen steigt. Bei ständigem Berührungsmangel steigt der Stresslevel. Auf Dauer kann es zu einem geschwächten Immunsystem kommen.
Freilich braucht nicht jeder Mensch ein gleiches Maß an Berührung. Das individuelle Bedürfnis ist von Person zu Person verschieden. Immer gilt: Berührungen sollte man nicht erdulden, wenn man sie nicht möchte. Diese sollten ausschließlich einvernehmlich erfolgen und abgestimmt auf die jeweilige Situation und kulturelle Herkunft sein.
Dr. Thomas Hartl
November 2022
Bild: Ground_Picture/shutterstock.com