Die COVID-19-Pandemie liegt zwar – hoffentlich – hinter uns, doch die Folgen der Corona-Maßnahmen sind nach wie vor zu spüren. Die Versorgungseinrichtungen und Praxen für Kinder und Jugendliche sind voll, es gilt Depressionen abzuklären und zu behandeln. Die Zeiten der Lockdowns und der Schulschließungen wirken in der Psyche vieler Jugendlicher immer noch nach.
Verfolgt man die Berichterstattung in den Medien, kann der Eindruck entstehen, als wären aufgrund der zurückliegenden Lockdowns sämtliche Jugendliche psychisch belastet oder gar depressiv. Das ist freilich nicht der Fall, man sollte nicht von einem Teil auf das Ganze schließen. „Rund ein Drittel der Heranwachsenden hat von den Lockdowns sogar profitiert. Sie haben sich in der neuen Situation gut eingerichtet und haben die Krise als Katalysator genutzt, um eigenständiger zu werden.
Vielschichtig statt Einheitsbrei
Introvertierte Kinder und Jugendliche haben sich in dieser Zeit meist wohl gefühlt, da sie gerne alleine sind und Menschen eher scheuen. Diese Jugendlichen bekamen erst nach Ende der Lockdowns Probleme, als sie wieder in die Schule gehen mussten und den Umgang mit den Mitschülern, der ihnen ohnehin schon immer schwerfiel, erst wieder erlernen mussten“, sagt Mag. Marina Gottwald, Klinische Psychologin und Psychotherapeutin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Neuromed Campus der Kepler Universitätsklinik Linz.
Ein weiteres Drittel hat diese Zeit ohne Blessuren überstanden, ohne daran groß zu leiden und auch ohne davon zu profitieren, es würde diese Zeit als neutral einstufen. Das letzte Drittel ist jenes, welches in den Medien stark thematisiert wird und jene Jugendlichen betrifft, die auch heute noch an den Folgen dieser Zeit leiden. Für sie waren die Lockdowns eine einschneidende Zeit, da sie sich nicht an die neue Situation anpassen konnten und oft auch nur mangelnde Unterstützung durch die Familie oder von außen erfahren haben. Extrovertierte litten besonders, da sie alleine nicht gut zurechtkommen und den Austausch mit Altersgenossen benötigen, um sich gut zu fühlen. „Dieses Drittel litt an den Lockdowns, da die Betroffenen diese unfreiwillige Isolation als Kontrollverlust und Verlust der eigenen Autonomie erlebten. Sie durften ihre Freunde nicht besuchen, fühlten sich orientierungslos und oft ohnmächtig“, erklärt Mag. Gottwald.
Das Gesagte trifft vor allem auf Jugendliche ab 14 Jahren zu. Kindergartenkinder und Volksschüler hatten weniger Probleme mit der damaligen Situation, da man sich in diesem Alter noch weitgehend an den Eltern und weniger den Freunden orientiert und der Drang nach einem Lebensraum außerhalb der Familie noch wenig vorhanden ist.
Pandemie zu Ende, Probleme bleiben
Die Pandemie ist zu Ende und die Lockdowns Geschichte – sollten damit nicht auch die Probleme ausgeräumt sein? „Leider ist das ganz und gar nicht der Fall. Die Folgen der Lockdowns beschäftigen uns nach wie vor und sie werden es auch in den nächsten Jahren noch tun, denn der entstandene Kollateralschaden ist wirklich sehr groß. Das ist so zu erklären: Während einer Krise funktioniert die Psyche meist eine Zeit lang einigermaßen gut und hält auch großen Belastungen stand. Ist die Krise vorüber, kommen die erlittenen Belastungen und der Stress an die Oberfläche und können Depressionen und andere psychische Störungen auslösen“, sagt die Psychologin. Deshalb haben alle Einrichtungen, die auf diese Altersgruppe spezialisiert sind, seit der Pandemie einen enormen Zulauf an hilfsbedürftigen Kindern und vor allem an Jugendlichen. Es ist ein Ansturm, der kaum zu bewältigen ist. Die medizinischen Systeme sind überlastet, man muss wirklich sagen: Es brennt der Hut.“
Schulschließungen als Problem
In den Zeiten der Schulschließungen gingen wichtige Fähigkeiten verloren beziehungsweise konnten nicht erworben werden. Mag. Gottwald schildert das Problem: „Wenn man monatelang zuhause ist, dann kann es passieren, dass man danach nicht wieder in den Schulalltag zurückfindet. Die langen Arbeitstage, das Kommunizieren in der Klasse, all das sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern man muss das üben. Auch der Austausch mit anderen will geübt sein. Wir alle lernen in und durch Beziehungen und soziale Interaktionen. Für Jugendliche gilt das ganz besonders. Diese Fähigkeiten verschlechterten sich deutlich und nicht alle schafften es, die gewohnten Anforderungen wieder zu bewältigen, so manche brachen daher die Schullaufbahn auch ganz ab.“
Andere wiederum verloren den schulischen Anschluss. In den Zeiten von Homeschooling wurde der Unterrichtsstoff aufgrund der didaktisch eingeschränkten Unterrichtsmethoden unzureichend erklärt und viele Schüler konnten ihn alleine nicht erfassen. Als die Schulen wieder aufmachten, wurde oft nahtlos mit neuem Schulstoff weitergemacht, ohne dass der alte Stoff, den viele alleine nicht verstanden, aufgearbeitet und gefestigt wurde. „Die Situation war von Schule zu Schule uneinheitlich. Leider haben manche nach den vier Corona-Semestern einfach mit dem Stoff weitergemacht, und damit war ein Teil der Schüler heillos überfordert. Zu dieser inhaltlichen Überforderung gesellte sich auch die Überforderung, plötzlich wieder so lange konzentriert arbeiten zu müssen. Die introvertierten Schüler waren zusätzlich sozial überfordert, sie standen nun wieder mit den Mitschülern in Konkurrenz und mussten sich im täglichen Austausch beweisen. Für manche war das einfach zu viel“, erklärt Mag. Gottwald.
Angst- und Ess-Störungen
Während der Corona-Pandemie haben nicht nur Depressionen zugenommen, auch Angststörungen haben zugelegt. Massiv gestiegen sind zudem Ess-Störungen. „Einer der unbewussten Gedanken dahinter war: Wenn ich schon mein Leben nicht mehr kontrollieren kann, so kann ich wenigstens meinen Körper kontrollieren. Zudem haben viele wegen Bewegungsmangel an Gewicht zugelegt und hatten gleichzeitig die schlanken Vorbilder in den sozialen Medien stets vor Augen. Diese Diskrepanz wurde versucht, mittels geändertem Essverhalten und teils drastischen Diäten aufzulösen, was oft zu einem krankhaften Ernährungsverhalten geführt hat“, erklärt die Psychologin.
Depressionen: Symptome und mögliche Reaktionen
Betroffene leiden unter ihrem Zustand. Denn sie werden geplagt von Selbstwertproblemen, von Scham, vom eigenen Desinteresse am Leben. Der Rückzug und das zu Hause Herumhängen wird nicht als erholend, sondern als frustrierend empfunden. Ein Teil der Betroffenen flüchtet sich in Alkohol oder (andere) Drogen oder versucht sich, mittels strikter Regulierung der Nahrungsaufnahme zu „spüren.“ Leider kommt es immer wieder auch zu selbstschädigenden Verhalten, Selbstverletzungen, Selbstmordgedanken und Suizidversuchen.
Depressionen sind nicht einheitlich, man unterscheidet verschiedene Schweregrade. Sie äußern sich typischerweise in Symptomen wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsprobleme, in selbstgewählter Isolation und Rückzug, in einem Erschöpfungsgefühl und daraus folgend in sinkenden Schulleistungen.
Diagnose und Sprachgebrauch
Bei kleinen Kindern sind Depressionen extrem selten. Je älter Kinder werden, desto häufiger werden Depressionen diagnostiziert. Ab der Pubertät sind sie auch zahlenmäßig ein echtes Problem. Eine Depression ist eine medizinische Diagnose und man sollte mit diesem Begriff nicht leichtfertig umgehen. „Nicht jede Gefühlsschwankung ist besorgniserregend oder gar krankheitswertig. Vor allem in der Pubertät gehört das einfach dazu, dass man emotional instabil ist und mit dem Auf und Ab der Gefühle zu kämpfen hat. Man sollte das nicht überinterpretieren und auch nicht vorschnell von einer Depression sprechen.
Von einer Depression kann man frühestens dann ausgehen, wenn die Gefühlslage beständig schlecht ist und die Symptome mindestens zwei Wochen lang andauern und situationsunabhängig auftreten, wenn sie also gleichbleibend sind, egal wie sich die äußeren Umstände im Lebensumfeld der Betroffenen darstellen. Wenn das der Fall ist, sollte man sich an einen Arzt, Psychologen oder Psychotherapeuten wenden, um die Beschwerden abzuklären“, sagt Mag. Gottwald.
Eltern leiden mit
Leidet das Kind, leiden auch die Eltern. Sie mussten nicht nur während der Pandemie ihre Kinder zuhause betreuen und hatten dadurch eine Mehrfachbelastung zu stemmen, sie mussten oft auch hilflos dabei zusehen, wie es dem Kind schlecht ging. Echte Depressionen benötigen professionelle Therapien. Eltern können dem Kind dadurch helfen, indem sie dessen Probleme nicht bagatellisieren, sondern ernst nehmen. Phrasen wie: „Das vergeht schon wieder“, oder „So ist es mir in meiner Jungend auch ergangen“, sind dagegen nicht hilfreich. Hilfreich sind Gespräche und dass man dem Kind vermittelt, dass man für es da ist und es nicht alleine lässt. Und dass man Hilfe organisiert.
Hat man den Verdacht, dass das eigene Kind leidet und vielleicht depressiv ist, so sollte man einen Arzt seines Vertrauens aufsuchen und sich bemühen, eine geeignete Therapie für das Kind zu bekommen. Da die Wartezeiten momentan meist lang sind, sollte man keine Zeit verlieren und sich rasch um einen Termin bemühen. Frühzeitige Hilfe wirkt immer besser als späte Hilfe.
„Eine Psychotherapie zu besuchen ist bei Jugendlichen heute mit keinem Stigma mehr behaftet, im Gegenteil, manche finden es ganz normal oder geradezu hipp, einen Psychotherapeuten zu haben. Eltern müssen ihre Kinder in der Regel also nicht zu einer Therapie mühsam überreden. Wer wirklich leidet, lehnt sie nicht ab, sondern ist erleichtert, wenn er professionelle Hilfe bekommt“, sagt Mag. Gottwald.
Dr. Thomas Hartl
Februar 2023
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