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Besser leben mit chronischen Schmerzen

Besser leben mit chronischen Schmerzen

Chronische Schmerzpatienten können selbst viel dazu beitragen, ihr Leben erträglicher und besser zu gestalten. Sich selbst zu helfen, ist ein Prozess, den jeder Einzelne lernen sollte, um seine Lebensqualität zu erhöhen. Hier sollen einige Anregungen dazu geliefert werden.

 

In Österreich sind rund 1,5 Millionen Personen von chronischen Schmerzen betroffen. Ein Teil davon hat schwere dauerhafte Schmerzen als eigenständige Krankheit entwickelt. Der Übergang von akuten zu chronischen Schmerzen ist ebenso fließend wie die Schweregrade der Schmerzerkrankung selbst. Die Versorgung von chronischen Schmerzpatienten ist nach wie vor nicht optimal, das Angebot an multimodalen Therapien ist spärlich.

 

Lebensqualität

 

Da medizinische Maßnahmen oft viel zu spät einsetzen und nicht den gewünschten Erfolg bringen, ist es für die Betroffenen von großer Bedeutung, sich ein Stück weit selbst helfen zu können. Für die Lebensqualität ist es entscheidend, mehrere schmerzmindernde Denk- und Verhaltensweisen zur Hand zu haben, wenn der Schmerz besonders unangenehm ist. „Diese Werkzeuge für sich zu erkennen, ist ein Lernprozess, den jeder für sich durchlaufen muss. Man wird dadurch unabhängiger von außen, bekommt mehr Vertrauen zu sich selbst, kann mit seinen Schmerzen besser umgehen und leidet dadurch weniger“, sagt Katharina Sigl, Leiterin der Selbsthilfegruppe Ehlers Danlos Syndrom in Linz. (www.daisy-day.com)

 

Schmerzen selbst beeinflussen

 

Die Lebensumstände jedes Menschen sind so individuell wie der Schmerz selbst. Jeder kann seine Schmerzen zu einem bestimmten Grad selbst beeinflussen. Er kann sie sowohl verschlimmern als auch abfedern. Diese Beeinflussung geschieht durch die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen. Da Schmerzen weder ein rein körperliches noch rein psychisches Phänomen sind, sondern den Menschen als Ganzes betreffen, lassen sie sich am besten umfassend durch verschiedenste Maßnahmen lindern. Die Einnahme von Medikamenten oder die Inanspruchnahme anderer Therapien ist eine Möglichkeit, sie ist aber nur ein Mittel von vielen. Bei akuten Schmerzen ist die Einnahme von Medikamenten oft ausreichend, bei chronischen Schmerzen ist damit jedoch keine dauerhafte Besserung zu erreichen.

 

Schmerzen variieren

 

Menschen mit chronischen Schmerzen haben diese langfristig zu bewältigen, oft über Jahre oder gar bis an ihr Lebensende. Das bedeutet aber nicht, dass die Schmerzen konstant wären. Erfahrene Betroffene wissen: Die Schmerzen sind nicht immer gleich, sie variieren von Tag zu Tag, an manchen Tagen sind sie quälend und kaum auszuhalten, an anderen kaum bemerkbar oder sogar völlig verschwunden.

 

„Man sollte sich von der Vorstellung lösen, dass Schmerz etwas Einheitliches ist. Er hat mehrere Komponenten und Ursachen, manchen Schmerz kann man bewusst beeinflussen, anderen nicht. Bestimmten Schmerzen ist man einfach ausgeliefert, andere kann man selbst lindern oder auch ganz auflösen. All das braucht Bewusstsein und Erfahrung im Umgang mit dem eigenen Körper und der Psyche. Entweder lernt man das mit der Zeit selbst, oder man holt sich Tipps von anderen Betroffenen, die bereits einen Weg gefunden haben“, rät Katharina Sigl.

 

Einfluss der Psyche

 

Einer der Gründe für die Schwankungen ist die psychische Komponente im Schmerzgeschehen. Sind wir glücklich und voller positiver Emotionen, so spüren wir vom Schmerz oft nur wenig. Natürlich gilt das auch andersherum: Psychische Belastungen wie Trauer, Angst, Zorn, Ohnmacht, Druck, Stress, Ärger etc. verschlimmern die Sache – in extremen Situationen droht uns der Schmerz gar zu überwältigen. „Für chronische Patienten ist es daher entscheidend, psychisch stark zu sein, sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen, die eigenen Emotionen zu kennen und sie lenken zu können. Das ist ein langer Weg, der sich aber in jedem Fall bezahlt macht“, sagt Sigl.

 

Medizinische Abklärung

 

Eine ausführliche medizinische Abklärung möglicher Schmerzursachen sollte möglichst frühzeitig erfolgen. Je eher man Schmerzursachen und auch Schmerzen behandelt, desto geringer ist das Risiko von dauerhaften Schmerzen. Treten neue Schmerzen hinzu, sollte man auch diese abklären lassen. Der Weg der Abklärung ist oft lang, doch er muss gegangen werden, um mögliche körperlichen Ursachen zu identifizieren und neue zusätzliche chronische Schmerzen zu verhindern.

 

Bewusstsein und Erkenntnis

 

Um Schmerzen beeinflussen zu können, ist es nötig, seinen Körper, seine Psyche, ja sein ganzes Leben zu kennen und zu verstehen. Wer bewusst und achtsam mit sich umgeht, wird erkennen, welche Umstände ihm guttun und welche die Schmerzen triggern. Wichtige Fragen lauten: Was würde mir jetzt guttun? Was war zu viel? Zu viel an Arbeit, an Grübeln, an sozialem Rückzug?

 

Ebenso wichtig ist die Frage nach dem, was mir fehlt. Fehlt es an Berührung, an Zuwendung, Bewegung, Kontakt zu anderen oder vielleicht an bestimmter Nahrung?

 

Täglicher Drahtsteilakt

 

Für viele Schmerzpatienten ist jeder einzelne Tag ein Drahtseilakt. Einerseits sollte man sich den Schmerzen nicht unterordnen und ihnen die Macht geben, das Leben zu dominieren, andererseits muss man ihr aktuelles oder künftiges Vorhandensein berücksichtigen. Man sollte sich immer fragen, was der Körper heute verträgt, und einen guten Weg finden zwischen Vorsicht und Aktivität. Es gilt, nicht schmerzängstlich zu sein, aber auch nicht übermütig.

 

Aktiv statt passiv

 

Bei Schmerzen ist es in der Regel hilfreich, eine bestimmte Aktivität zu zeigen und sich nicht ins Bett zurückzuziehen. Wenn es möglich ist, sollte man sich bewegen, an die frische Luft gehen oder sich mit nützlichen Dingen wie Hausarbeiten abzulenken. Ablenkung bringt die Aufmerksamkeit des Hirns weg vom Schmerz und kann ihn in den Hintergrund drängen. Dienlich ist jede wirksame Ablenkung, das kann auch ein fesselnder Film oder ein Computerspiel sein.

 

Balance statt Übermut

 

Viele Patienten kennen das: Wenn man einen guten Tag hat, versucht man vieles von dem nachzuholen, was man sich sonst verkneifen muss. Man will das Leben spüren. „Doch man sollte es nicht übertreiben, sondern sich an den eigenen bekannten Grenzen orientieren, sonst bekommt am nächsten Tag die Rechnung in Form von doppelten Schmerzen präsentiert. Man sollte daher versuchen, stets die Balance zu finden zwischen dem was geht und man gerne hätte“, rät Sigl.

 

Umgang mit guten Tagen

 

Für Nicht-Schmerzpatienten mag es seltsam klingen, dass man dem Umgang mit guten Tagen überhaupt einen Gedanken widmet, doch Schmerzkranke wissen, wovon die Rede ist: Wenn es einem nach einer Reihe von Schmerztagen einmal auffällig gut geht, dann fühlt sich das seltsam und ungewohnt an und lässt einen staunen oder gar euphorisch sein. Es kann aber auch skeptisch-ängstlich machen, da die Enttäuschung über das (vorhersehbare) Ende dieses Zustandes umso größer sein wird.

 

„Man möchte am liebsten laut jubeln und es allen mitteilen. Viele trauen sich das aber nicht, denn sie wissen, dass es mit diesem wunderbaren Zustand von einer Minute auf die nächste auch wieder vorbei sein kann. Außerdem glauben dann die anderen, dass die gute Verfassung jetzt auch so bleiben muss und reagieren ungläubig bis enttäuscht, wenn die nächste Schmerzattacke dann kommt und man wieder den Rückzug antreten muss. Es ist daher besser, die guten Momente wirklich zu genießen, ohne in großen Jubel oder Aktionismus zu verfallen und dankbar dafür sein“, sagt Sigl.

 

Umgang mit schlechten Tagen

 

Auch schlechten Tagen sollte man bewusst begegnen. Meist weiß man schon beim Erwachen, dass ein schmerzhafter Tag bevorsteht. Diese Erkenntnis zu ignorieren oder sich ihr zu widersetzen, ist wenig hilfreich. Besser ist es, sie zu akzeptieren, denn Widerstand kostet Energie und erhöht das Schmerzempfinden noch weiter.

 

An schlechten Tagen sollte man sich möglichst gut um sich selbst kümmern. Hilfreich ist es, sich zu fragen, was einem heute guttun würde, was man braucht, was man lassen soll, was dem Körper und/oder der Psyche helfen könnte. Ob man sich kurz ausruhen sollte, ein Bad nehmen, einen Spaziergang machen oder tief durchatmen sollte. Was auch immer, ein jeder Betroffene lernt im Laufe der Zeit, was ihm guttut und was nicht. 

 

„Schmerztage sollte man gut planen. Es ist ein wenig so, als hätte man einen Wandertag vor sich und muss nun seinen Rucksack packen. Man sollte sich fragen, was man heute an diesem speziellen Tag braucht. Viel zu trinken? Gutes Essen? Medikamente? Wärme für den Bauch oder den Rücken? Eine Massage am Abend? Da so ein Tag oft anstrengend ist, nehme ich mir nur wenige Dinge vor und nehme damit Stress heraus. Keinesfalls sollte man eisern seine To-Do-Liste abarbeiten, sondern Prioritäten setzen und nur das erledigen, was am wichtigsten ist“, rät Sigl.

 

Kommunikation und Jammern

 

Achten Sie darauf, wem Sie Einblick in ihr Leid geben. Dem engsten Umfeld kann man an schwierigen Tagen kurze Informationen mitteilen. Beispiel: „Heute streikt mein Körper. Heute ist es nicht so gut.“ Diese Information kann – im Gegensatz zu ständigem Jammern – sinnvoll sein, damit die anderen wissen, dass man an diesem Tag nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Man sollte ganz konkret mitteilen, was man im Augenblick braucht und wie das Gegenüber helfen könnte, zum Beispiel: „Eine Umarmung würde mir jetzt wirklich guttun.“

 

Generell sollte man über Schmerzen (abseits des engsten Umfeldes) nur mit jemanden sprechen, der sich damit wirklich auskennt, entweder weil er selbst chronischer Patient oder ein medizinischer Schmerzspezialist ist.

 

Weitere Tipps kurz und knapp

 

  • Integrieren Sie das, was Ihnen guttut, in Ihr Leben – und zwar regelmäßig.
  • Oft ist schon viel gewonnen, wenn man weglässt, was einem nicht guttut.
  • Selbstdisziplin üben. Eisern einhalten, was man als gut für sich erkannt hat.
  • Immer wieder Pausen einlegen, sich nicht überfordern. Dennoch möglichst aktiv sein.
  • An der geistigen Haltung arbeiten, dankbar sein für das, was gut im Leben ist. Sich immer wieder auf das Positive im Leben fokussieren.

 

Dr. Thomas Hartl
Juni 2023


Bild: New Africa/shutterstock.com




Zuletzt aktualisiert am 07. Juni 2023