Wer dauerhaft an Schmerzen leidet, lebt in seiner eigenen Welt. Der Schmerz bestimmt das Lebensgefühl und diktiert den Alltag. Die Bewältigung der Schmerzen und ihrer Folgen ist eine langfristige Aufgabe, um eine gewisse Lebensqualität zu erhalten.
In Österreich leiden 1,5 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen. Das bedeutet, dass Schmerzen zumindest über mehrere Monate hinweg immer wieder auftreten oder dauerhaft vorhanden sind. Sie können sich bilden, wenn akute Schmerzen nicht ausreichend behandelt werden und bleiben dann unabhängig von der ursprünglichen Ursache weiterhin bestehen, selbst wenn die anfängliche Schmerzquelle durch eine Operation oder eine andere Therapie beseitigt wurde.
„In den Jahren der Covid-Pandemie und der damit einhergehenden einschränkenden Maßnahmen hat sich die Situation der chronischen Schmerzpatienten in Österreich weiter verschlimmert. Das zeigt sich etwa an der deutlich gestiegenen Einnahme von Schmerzmedikamenten. Viele Patienten haben sich in dieser Zeit weniger bewegt und Gewicht zugenommen. Beides ist Treibstoff für den Schmerz von chronischen Patienten“, sagt Dr. Martin Pinsger, der seit 2012 ein Schmerzkompetenzzentrum in Bad Vöslau leitet und interdisziplinär und multimodal therapiert.
Die 1000 Gesichter des Schmerzes
Was chronische Schmerzen mit den befallenen Personen machen, und wie sich dieser Zustand tatsächlich anfühlt, ist Nicht-Betroffenen schwer zu vermitteln. Zudem treten Schmerzen ganz unterschiedlich auf und werden von Mensch zu Mensch sehr verschieden wahrgenommen. Auch ist die Intensität sehr unterschiedlich. Während manche nur leichte Schmerzen haben, sind andere so heftig und umfassend davon betroffen, dass sie kaum mit ihnen leben können.
Schmerzen können beispielsweise dumpf sein oder auch klar, ziehend oder vibrierend, unterschwellig oder das Bewusstsein dominierend. Mit der Zeit werden sie ein unsichtbarer Begleiter, der in einem lebt und das Denken, Fühlen und Handeln zu dominieren beginnt. Nach einigen Schmerzjahren können sich viele nicht mehr daran erinnern, wie sich das angefühlt hat, einst ohne Schmerzen gelebt zu haben. Selbst in die Träume können sich die Schmerzen schleichen und diese dominieren.
Manche Betroffene haben nur ein begrenztes Körpergebiet, welches mal mehr oder mal weniger weh tut, bei anderen erfassen die Schmerzen oft große Körperregionen oder gar den ganzen Körper. Letztere können oft nicht genau bestimmen, wo es konkret schmerzt und wie sich der Schmerz eigentlich anfühlt. Man spürt einfach alles vermehrt. Wenn in so einer Situation beispielsweise ein grippaler Infekt oder gar eine echte Grippe hinzukommt, oder wenn eine Operation nötig wird, kann das zu Schmerzeskapaden führen, die echte Krisen herbeiführen können.
Manchen chronischen Patienten ergeht es so, dass es ständig irgendwo im Körper wehtut, sie haben das Gefühl, als suche sich der Körper ein Organ oder eine Region, die er eine Zeit lang befällt, um dann zur nächsten Stelle zu ziehen. So kann es sein, dass es an einem Tag in den Zähnen schmerzt, am nächsten im Schädel, dann in den Schultern, dann in der Wirbelsäule und wieder später fühlt man sich generell krank (ohne aber eine definierbare Erkrankung zu haben).
Schmerzen bleiben auch nicht immer gleich stark. Verschiedenste bekannte und noch unbekannte Faktoren beeinflussen deren Intensität. Einige der bekannten Faktoren sind: Das Vorliegen weiterer Erkrankungen oder von Entzündungen, die aktuelle Gefühlswelt (Hoffnungslosigkeit, negative Erwartungen, Probleme und Krisen verstärken chronische Schmerzen), auch das Wetter, Kälte oder Wärme spielen bei vielen Betroffenen eine Rolle.
Ein Teil der chronischen Patienten gelangt nach vielen Jahren der Schmerzen in einen Zustand, den man als Fibromyalgie-Syndrom bezeichnen kann. Geprägt ist dieses Leiden von Erschöpfung (Fatigue), Gliederschmerzen, Schlafstörungen, sozialem Rückzug und von einem unbestimmten Krankheitsgefühl (man fühlt sich ständig so, als habe man leichte grippeähnliche Zustände).
Schmerzbewältigung als Lebensaufgabe
Wie stark man seine Schmerzen spürt und vor allem, wie sehr man an ihnen leidet, hängt auch davon ab, ob und inwiefern es gelingt, mit ihnen umzugehen. Es macht einen großen Unterschied, ob man ihre Existenz akzeptieren kann oder ob man sie ständig weghaben möchte. Entscheidend ist auch, ob man Angst vor den Schmerzen entwickelt und sich dieser Angst ergibt, oder ob man seinen unliebsamen Begleiter ins Leben integrieren lernt. Diese Bewältigung der Schmerzen ist ein jahrelanger Prozess – er entscheidet, ob man trotz Schmerzen weiterhin eine gewisse Lebensqualität aufrechterhalten beziehungsweise wiedererlangen kann oder nicht.
Chronische Schmerzen bringen häufig weitere Probleme mit sich: Depressionen, Schlafstörungen, Erschöpfung, Angststörungen, Arbeitsunfähigkeit, Lebensüberdruss. „Chronische Patienten haben in vielen Fällen mit diesen Problemen zu kämpfen, weil Schmerzen niemals alleine auftreten. Umso wichtiger ist es, eine ganzheitliche Behandlung zu bekommen und zudem selbst alles zu tun, um mit seinem Schmerzproblem gut auszukommen“, sagt Dr. Pinsger.
Schmerzschwelle ändert sich
Die Schmerzforschung geht davon aus, dass chronische Schmerzen eine Folge krankhafter Veränderungen im Nervensystem sind, welches gleichsam überempfindlich geworden ist. Im Zuge dieser Veränderungen kommt es auch zu Entzündungen im Nervensystem (Neuroinflammation).
Wie stark man die Schmerzen jeweils spürt, hängt vom Schmerzempfinden ab. Hierbei spielen die körpereigenen Schmerzmelder (Nozizeptoren) eine bedeutende Rolle. Diese Fühler leiten verschiedenste Reize über das Rückenmark zum Gehirn weiter. Erst dann nimmt der Mensch den Schmerz wahr.
Das Schmerzempfinden ist aber nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt und wird von vielen Faktoren beeinflusst. Auch bei jedem Einzelnen ist das Schmerzempfinden schwankend. Ein Schmerzreiz, der an einem Tag zu einer starken Schmerzreaktion führt, kann an einem anderen Tag bloß als lästig empfunden werden. Dennoch war das Prinzip das Gleiche: In beiden Fällen wurde von den Nozizeptoren ein Reiz wahrgenommen und weitergeleitet. Die Schmerzschwelle hat sich jedoch während dieser Tage verschoben. Generell lässt sich feststellen, dass diese Schwelle bei chronischen Patienten tendenziell immer weiter absinkt, falls diese ohne ausreichende und ganzheitliche Therapie bleiben.
Positive Reize wichtig
Chronische Schmerzpatienten nehmen Reize verstärkt wahr, und zwar innere als auch äußere. Äußere Reize werden etwa durch Lärm, Temperatur und Berührungen angestoßen, innere Reize durch Emotionen, Erwartungen und psychischen Stress. Schmerzpatienten bekommen mit der Zeit eine „dünne Haut“ und werden immer sensibler. „Solche Patienten erleben sich selbst als instabil. Der eine Tag kann okay sein, doch der nächste kann wieder furchtbar sein. Wer dieses Auf und Ab sehr lange erlebt, bekommt oft große Angst vor seinen unvorhersehbaren Zuständen“, sagt Dr. Pinsger.
Um nicht nur mit negativen Reizen konfrontiert zu sein, ist es wichtig, regelmäßig auch für positive Reize und positive Emotionen zu sorgen. Hilfreich können sein: angenehme Berührungen, Massagen, gute Gespräche, das Ausüben von Hobbies, das Lenken der Aufmerksamkeit auf die erfreulichen Aspekte des Lebens, das sich bewusstmachen, was trotz allem gut ist im Leben, das Erfüllen von großen und kleinen Lebenswünschen.
Wer ständig an Schmerzen leidet, sollte unbedingt versuchen, einen gewissen Ausgleich zu schaffen, um nicht im Schmerz zu versinken, depressiv zu werden und sich im sozialen Rückzug seinem vermeintlichen Schicksal zu ergeben. Hilfreich kann auch das Führen eines Erfolgstagebuchs sein, in dem man sich aufschreibt und dadurch bewusst macht, was einem gut getan hat an diesem Tag und auch, was man trotz seiner Schmerzen unternommen hat. Denn das Teilnehmen am sozialen Leben ist zwar erschwert, aber für die Psyche enorm wichtig.
Keine Simulanten
Schmerzpatienten werden oft mit Unverständnis oder gar mit Vorwürfen konfrontiert, dass sie ihre Schmerzen übertreiben oder gar simulieren würden. „Nichts davon entspricht der Realität. Wer davon nicht betroffen ist, ist in dem beneidenswerten Zustand, sich das Körpergefühl und auch die beschwerte Psyche der Patienten einfach nicht vorstellen zu können. Dennoch sind die Schmerzen vorhanden, sie sind da, über Jahre hinweg, sie beeinflussen und dominieren bei unglaublich vielen Patienten das gesamte Leben“, sagt Dr. Pinsger.
Lebenslange Anpassungen nötig
Chronischen Schmerzpatienten kann man meist mit einer multimodalen Therapie helfen, ihre Schmerzen zu senken. „Diese Therapie ist jedoch immer wieder an die aktuellen Umstände des Patienten anzupassen. Doch Therapie alleine ist zu wenig. Viele Patienten leben seit vielen Jahren oder gar seit Jahrzehnten mit Schmerzen. Damit man mit ihnen klarkommt und eine weitere Verschlechterung so gut wie möglich vermeidet, bedarf es einer ständigen Adaption des Lebensstils, und zwar ein Leben lang“, sagt Dr. Pinsger.
Adaptionen betreffen folgende Bereiche: gesunde Ernährung, viel Bewegung, ausreichender Schlaf, Stressreduktion, normales Körpergewicht, eine gute Partnerschaft, Pflege von Freundschaften, soziale Eingebundenheit, das Finden von Lebensaufgaben und Hobbies; manchmal kann auch eine Reduktion der Erwerbsarbeit oder eine vorzeitige Pensionierung der letzte Ausweg sein.
Dr. Thomas Hartl
Juli 2022
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