Viele Menschen mit angeschlagener Gesundheit entwickeln ein typisches Krankheitsverhalten. Sie ziehen sich zurück, trauen sich nichts mehr zu, manche geben sich auf. Will man wieder zurück in die Spur, muss man am eigenen Denken und Verhalten arbeiten. Durch bewusste Selbstregulation können Betroffene lernen, Schritt für Schritt ihr Leben wieder aktiver zu gestalten.
Laut Gesundheitsbericht der Statistik Austria sind 2,8 Millionen Österreicher chronisch krank. Ständige Schmerzen, chronische Darmerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und viele mehr. So unterschiedlich die Krankheiten auch sind, eines haben viele Betroffene gemein: Durch die lange anhaltenden Beschwerden identifizieren sie sich als kranke Menschen und nehmen im Alltag die Rolle eines Bedürftigen ein. Selbst wenn sich die Beschwerden bessern oder ganz verschwinden, gelingt es nicht allen, sich wieder wie ein Gesunder zu verhalten.
Sozialer Rückzug
Menschen mit chronischen Krankheiten oder dauerhaften Beschwerden ziehen sich häufig aus der Öffentlichkeit zurück, beginnen gesellschaftliche Anlässe zu meiden, vernachlässigen Freundschaften und Hobbies und isolieren sich zunehmend. Das führt zu einer Einbuße an positiven Erlebnismöglichkeiten, zur Reduktion von Aktivitäten, zu depressiven Verstimmungen und Ängsten sowie zu Konflikten mit dem sozialen Umfeld.
Die Bemühungen, alltägliche Aktivitäten zu bewältigen, nehmen ab und man wird generell passiv. „Die einzigen Kontakte, die manchen noch bleiben, sind Ärzte und Therapeuten. So ein gesellschaftlicher Rückzug ist ein gefährliches Verhalten, denn er engt den Lebensspielraum immer weiter ein und verstärkt die Rolle, ein kranker Mensch zu sein“, sagt Mag. Astrid Jorda vom Institut für Psychotherapie am Kepler Universitätsklinikum Linz.
Verantwortung an Medizinbetrieb abgegeben
Wer jahrelang an gesundheitlichen Problemen leidet, hat meist eine Menge Ärzte konsultiert. Während manche Betroffene selbst möglichst viele Maßnahmen ergreifen, damit es ihnen wieder besser geht und sie wieder mehr Lebensqualität aufbauen können, geben andere ihre Verantwortung ab. Sie hoffen, dass Ärzte und andere Experten ihre Probleme in den Griff bekommen mögen. „Nur jene, die bereit sind, selbst an sich zu arbeiten, haben langfristig Erfolg. Nur wer sich selbst um seine Gesundheit bemüht, dem wird es langfristig besser gehen und er wird sein Krankenverhalten ändern können. Es ist wichtig, die Verantwortung für sich und sein Befinden zu übernehmen“, sagt Mag. Jorda.
Funktionalisierung der Erkrankung
Wer eine Krankheit erleidet, erhält in der Regel Zuwendung und Fürsorge. Da seine Leistungsfähigkeit zurückgeht, werden ihm Arbeiten und Pflichten abgenommen. Auch wenn kein Kranker krank sein will, so erlebt ein Teil der Betroffenen diese Fürsorge und diese Verminderung der Leistungsansprüche als erleichternd. Es tritt auch ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Man spricht dann von einer Funktionalisierung der Erkrankung oder einem sekundären Krankheitsgewinn.
„Wenn man in solchen Situationen nicht aktiv gegensteuert, droht die Gefahr, dass man sich immer weiter einschränkt. Gefährlich wird es dann, wenn man immer weniger zu machen bereit ist und die Verantwortung für sein Leben an andere abgibt. Der eigene Radius engt sich dann immer weiter ein, die eigene körperliche und mentale Kraft und soziale Fähigkeiten schrumpfen immer mehr. Ein Beispiel: Wenn sich jemand zu allen ärztlichen Routineuntersuchungen mit dem Auto chauffieren lässt, so ist das keine gute Entwicklung. Man sollte wieder lernen, mit den öffentlichen Verkehrsmittel zu fahren und generell versuchen, nicht ständig von anderen abhängig zu sein“, sagt die Psychotherapeutin.
Selbstmanagement
Wenn man das eigene Krankheitsverhalten erkannt hat und gewillt ist, es abzulegen, kann man selbst einige Dinge tun, wieder freier von seinen Einschränkungen, unabhängiger von medizinischer Hilfe und selbstständiger zu werden. Im Folgenden werden einige Maßnahmen dargestellt, die man je nach eigener Betroffenheit und individueller Fähigkeit nützen kann, um Schritte in Richtung eines Verhaltens eines Gesunden zu tun. Zielführend ist es, sowohl auf körperlicher, sozialer als auch auf mentaler Ebene an sich zu arbeiten.
Isolation aufgeben
Verstärkter Rückzug führt zum Verlust von Selbstvertrauen und der Fähigkeit, sich mit Menschen über etwas anderes als über die eigenen Beschwerden zu unterhalten. Um dem entgegenzuwirken, muss man wieder lernen, sich zu öffnen, die eigenen vier Wände wieder regelmäßig verlassen, andere Menschen treffen und gemeinsam etwas unternehmen. „Das kann Sport in der Gruppe sein, ein Kochkurs, ein gemeinsames Besichtigen einer Ausstellung, ein geselliger Waldspaziergang oder auch jedes andere Hobby, das man nicht alleine ausführt. Wer das nicht schafft, dem kann eine psychotherapeutische Gruppentherapie in der Regel gut helfen, wieder öfter die Komfortzone seiner eigenen Wohnung zu verlassen und wieder am geselligen Leben teilzunehmen“, sagt Mag. Jorda.
Um sich nicht zu überfordern, sollte man die sehr eng gewordene Komfortzone in kleinen, persönlich angepassten Schritt verlassen. Hat man sich überwunden und etwas Neues gewagt, sollte man sich dafür belohnen und loben und den nächsten Schritt tun. Auf diese Weise ist es möglich, Erfolg zu haben und auch Freude zu verspüren. Mit jedem Schritt wächst das Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten um ein Stück. Man erkennt, dass man doch robuster ist, als man dachte. Und man kann sich Stück für Stück ein wenig mehr zutrauen.
Positive Kommunikation
Bei manchen chronischen Kranken hat sich der Lebensinhalt auf die Beschwerden und Therapieversuche reduziert. Da sich die Gedanken ständig um das eigene Leid drehen, sprechen sie auch ständig darüber – was die Außenwelt als Jammern empfindet. „Wie man kommuniziert, hat auch Einfluss auf das eigene Befinden. Wer immer nur jammert, der verfestigt seinen schlechten Zustand. Man sollte sich bemühen, das Jammern zu verringern und ansonsten möglichst oft Positives sagen. Zehn Prozent Jammern, neunzig Prozent positive Worte, das würde vielen helfen. Oft ist es leider genau umgekehrt“, sagt Mag. Jorda.
Ziele setzen
Um das eigene Verhalten verändern zu können, sollte man sich Ziele setzen. Was möchte man erreichen? Was wäre so toll, um sich wirklich Mühe zu geben, die gewohnte Rolle als Kranker Schritt für Schritt zu verlassen?
Wer sein Krankheitsverhalten überwinden möchte, setzt sich mitunter zu hohe Ziele, die er aufgrund seiner reduzierten Belastbarkeit auf Anhieb nicht erreichen kann. Anstatt sich zum Ziel zu setzen, einen Marathon zu laufen, wäre es daher sinnvoller, sich vorzunehmen, regelmäßig spazieren zu gehen. Wenn das problemlos funktioniert, kann man sich ein nächsthöheres Ziel setzen, etwa eine gewisse Strecke bei moderatem Tempo zu laufen. Es ist wichtig, dass die gesetzten Ziele persönlich relevant und motivierend sind, aber dennoch realistisch und erreichbar. „Auch ambitionierte Ziele sind gut, man sollte sie aber in kleine Etappen unterteilen, sodass man sich nicht überfordert und frühzeitig frustriert aufgibt“, rät Mag. Jorda.
Imaginationstechniken
Leidet man jahrelang an Symptomen, kann es passieren, dass man sich stark auf diese fokussiert, und dass das positive Körpergefühl, das die meisten in ihrem Leben doch auch einmal hatten, verloren ging. Mag. Jorda: „Falls man sich an das gute Körpergefühl erinnern kann, das man in früheren Jahren einmal hatte, sollte man diese alten Wohlfühlmomente möglichst lebhaft immer wieder erfühlen und damit das dafür zuständige Gedächtnisareal im Gehirn aktivieren. Sehr gut ist es auch, Bilder zu visualisieren, wie es einem zukünftig besser gehen soll. Man entwirft ein positives Bild von sich selbst, so wie man gerne sein würde und stellt sich immer wieder vor, dass sich das Bild bereits verwirklicht hat. Am wirkungsvollsten ist es, wenn man das mit dem Gefühl großer Freude und Hoffnung verbindet und beim visuellen Ausmalen und mentalen Erleben des gewünschten Zieles alle Sinne miteinbezieht.“
Es geht also darum, den eigenen Erfolg im Vorhinein zu spüren. Beispiele: Man sieht sich spazieren, walken oder laufen und es geht einem richtig gut dabei; oder man hört sich vor Freude singen, man fühlt sich den Partner umarmen, man riecht den Duft des Waldes, durch den man läuft. Man sollte diese Übungen möglichst täglich machen, um die neuen Bilder von sich im Unterbewusstsein zu verankern. „Bis man selbst eine Veränderung wahrnimmt, dauert es zwei bis drei Monate. Daher bitte etwas Geduld haben und weitermachen“, rät die Psychotherapeutin.
Gesunde Lebensführung
Viele Betroffene entwickeln übertriebene Sorgen um die eigene Gesundheit. Manche führen dennoch einen gesundheitsgefährdenden Lebensstil (Fehlernährung, Bewegungsmangel, Alltagsdrogen, zu viel Bildschirmzeit). „Auch und erst recht, wenn man ein chronisches gesundheitliches Problem hat, sollte man sich um eine gesunde Lebensführung bemühen. Viel Bewegung und Sport, gesund essen, Freunde treffen, an der inneren Einstellung arbeiten. All das ist immens wichtig. Man braucht kein Asket zu werden und sollte das Leben auch bewusst genießen, doch im Großen und Ganzen hilft ein gesunder Lebensstil sehr gut dabei, die vorhandenen Probleme zu verringern oder sie besser bewältigen zu können. Rauchen, unausgewogene Ernährung und körperliche Inaktivität hingegen vergrößert die vorhandenen Probleme“, sagt Mag. Jorda.
Neue Gewohnheiten
Die Einführung einer gesünderen Lebensweise bedeutet auch, dass man sich von liebgewonnen, aber schädlichen Verhaltensweisen trennen sollte. Bevor man allerdingst etwas weglässt, wie beispielsweise das Rauchen, sollte man sich Gedanken machen, wie man die Lücke mit einem positiven Ersatz füllen möchte – sei es mit einem Apfel, einer Entspannungsübung oder irgendetwas anderes, das guttun könnte.
Ein Tagebuch hilft dabei, die Gewohnheiten zu erkennen und zeigt auf, ob Veränderungen tatsächlich angegangen werden oder ob wir sie uns nur vornehmen. „Ein Tagebuch eignet sich auch, die kleinen und große Erfolge des Tages zu notieren. Auch die kleinen Erfolge sind wichtig. Beispiel: Wenn man nur ein paar Minuten spazieren oder joggen war, war das besser als den ganzen Tag nur in den eigenen vier Wänden zu sitzen. Sich diese Erfolge bewusst zu machen, motiviert und hilft uns, weiterzumachen auf dem Weg der positiven Veränderung“, sagt die Psychotherapeutin.
Dr. Thomas Hartl
Oktober 2023
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